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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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ging alles weg, und in der letzten Nacht lagen unsere Matratzen auf dem Fußboden, weil auch das Bett schon verkauft war.
    Nur einen kleinen Stapel Bücher wollte niemand haben. Sie waren in einer fremden Schrift geschrieben, und Papa sagte, das sei Judski-Kram und des Aufhebens nicht wert.
    Aber das war nicht das Wichtigste, das in Kriescht passierte. Das Wichtigste war etwas anderes.
    Etwas viel Unangenehmeres.
     
    Es muss am zweiten oder dritten Tag nach unserer Ankunft gewesen sein. Das Wetter war besser geworden. Dort, wo die tiefstehende Sonne wie der Lichtkegel eines Theaterscheinwerfers durch die Fenster strahlte, tanzten Staubpartikel. Wenn man in die Hände klatschte, stoben sie für einen Moment auseinander, als ob das Geräusch sie erschreckt hätte. Aber möglicherweise gehört die Erinnerung an dieses kindliche Experiment gar nicht zu diesem Tag, und mein Gedächtnis hat sie nur nachträglich dort eingefügt.
    Egal.
    Mit was auch immer ich mir in dieser fremden Wohnung die Zeit vertrieb, für meinen genervten Vater war es zu laut. Er schlug vor, ich solle runter auf die Straße gehen, von wo die Stimmen spielender Kinder zu hören waren. Jungen meines Alters. Mit denen, meinte Papa, würde ich mich bestimmt wunderbar verstehen.
    Wir spielten denn auch zusammen, etwas Kompliziertes, bei dem man mit geschlossenen Augen einen Parcours abhüpfen musste, ohne an der falschen Stelle einen Fuß auf den Boden zu setzen.Die erlaubten und die verbotenen Felder waren mit einem Ast in den feuchten Boden gekratzt. Die gestampfte Erde, in der das möglich war, erschien mir als großer Fortschritt gegenüber dem Berliner Asphalt.
    Ich kannte die Regeln nicht und machte alles falsch. Die andern mochten das. Sie konnten mich bei jedem Fehler auslachen, was sie ganz ohne Bösartigkeit taten. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen in einem zerrissenen Hemd, der sich vor Begeisterung über meine Ungeschicklichkeit nicht beruhigen konnte. Er zog beim Gehen ein Bein nach und war wohl, bis ich dazukam, immer der Schlechteste gewesen.
    Bald hatte ich die Regeln begriffen und mir die Felder gemerkt. Ich habe später auch Rollentexte immer sehr schnell auswendig gekonnt. Ich war kurz davor, eine fehlerfreie Runde zu schaffen, als sich mir plötzlich, mitten auf dem Parcours, jemand in den Weg stellte. Jemand, der größer war als ich. Viel größer. Das erste, was ich von ihm sah, als ich die Augen öffnete, war sein grobgestrickter grauer Pullover.
    Ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren. Und er war nicht allein. Da waren noch zwei andere. Die frisch erlernten Regeln des Spiels waren mir so wichtig, dass ich als erstes dachte: Die stehen ja auf den verbotenen Feldern. Warum sagt ihnen das keiner?
    Aber da war keiner mehr, der es ihnen hätte sagen können. Meine Spielkameraden waren verschwunden.
    Die drei Jungen, die mir wie Männer vorkamen, wie Riesen, unterzogen mich einem Verhör. Wie ich hieße, woher ich käme, und was ich hier zu suchen hätte.
    «Ich heiße Kurt Gerson», sagte ich und fügte, wie man es mir für den Fall, dass ich mich einmal verlaufen sollte, eingetrichtert hatte, hinzu: «Klopstockstraße 19.»
    «Klopstock», wiederholte der Junge. «Das ist ein guter Vorschlag. Du willst also, dass wir einen Stock holen und dich verkloppen?»
    Die beiden andern begrölten das Wortspiel. Wie besoffene Kabarettbesucher einen zweideutigen Witz.
    «Nein», sagte ich. «Bitte nicht.»
    «Noch einmal: Wie heißt du?»
    Er war mir so bedrohlich nahe, dass ich seinem ungewaschenen Geruch nicht ausweichen konnte. Gern hätte ich einen Schritt rückwärts gemacht, aber das traute ich mich nicht. Es gibt ein Werbephoto, auf dem der schmächtige Heinz Rühmann vor mir steht und zu mir aufblickt, die Nase fast an meinem dicken Bauch. So ähnlich müssen auch damals die Größenverhältnisse gewesen sein. Im Atelier hat man mir für die Aufnahme eine Kiste untergeschoben. Der Junge in Kriescht brauchte das nicht, um auf mich herabzusehen.
    «Ich heiße Gerson», wiederholte ich. Meine Stimme fing schon an zu zittern. «Kurt Gerson, ja.»
    «Gerson …» Mein Peiniger schien nach einer Pointe zu suchen, noch brillanter als die vom Stock und vom Kloppen, aber es fiel ihm keine ein. «Wer hat dir erlaubt, dich hier herumzutreiben?»
    «Wir haben nur gespielt.»
    «Wer es dir erlaubt hat?»
    «Mein Vater. Er hat gesagt …»
    «Dein Vater? Interessant. Heißt der etwa auch Gerson?»
    Ich nickte. Meine Stimme war immer dünner

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