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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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faltete sein Taschentuch sorgfältig zusammen. Machte dann eine Geste, die man auch ohne tschechisches Wörterbuch verstand. Breitete in einer kleinen Verneigung den rechten Arm aus. Ein Feldherr, der seinem König eine eroberte Provinz zu Füßen legt. «Wohin soll’s denn gehen?», hieß die Geste.
    Ich hatte keine Ahnung. Wies auf Geratewohl in die Richtung, wo mir die Landschaft am lauschigsten schien. Jiři nickte, hängte sich sein Gewehr über die Schulter und ging neben mir her. Nicht wie Bewacher und Bewachter. Zwei Freunde auf einer Landpartie.
    Feldwege. Wiesen. Hecken. Und eben der Hase. Natur. Ich hatte schon ganz vergessen, was das ist.
    Und noch etwas: Ich wusste jetzt definitiv, dass mein Film wichtig ist. So wichtig, dass nicht nur Eppstein meine Wünsche erfüllt, sondern sogar Rahm. Nur der Lagerkommandant persönlich kann angeordnet haben, dass ich Theresienstadt verlassen durfte. Einfach so, nur um mich umzusehen. Ich hatte, nach all der Zeit des Strammstehens und Gehorchens, wieder einen Fetzen Selbstbestimmung zurückbekommen. Ein winziges Fitzelchen Macht. Es tat gut.
    «Wir gehen nach links», signalisierte ich, und wir gingen nach links.
    Jiři ist ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch. Hat es mir nicht einmal übelgenommen, dass ich sein Mittagessen ausgekotzt habe. Er hatte ein Stullenpaket mitgebracht, schweres, dunkles Brot, dick mit Butter bestrichen und mit Speckscheiben belegt. Er muss sich aus seinem Bauerndorf Vorräte mitgebracht haben. In den Läden, das wissen wir, sind solche Köstlichkeiten auch hier nicht mehr zu bekommen. Er teilte die Brote ganz selbstverständlich auf, die Hälfte für mich, die Hälfte für ihn. Es schien ihn nicht zu stören, dass ich meinen Teil fast ohne zu kauen hinunterschlang.
    «Iss nicht so gierig, Kurt», hat Mama immer gesagt, wenn mir etwas allzu gut schmeckte.
    Brot. Butter. Speck.
    Ambrosia.
    Mein Magen ist kein Fett mehr gewöhnt. Eine Viertelstunde später waren die unverdauten Brocken wieder ausgespieen. Jiři hatte eine Feldflasche voll Wasser dabei und ließ mich den Mund ausspülen. Später pflückte er mir einen grünen, noch nicht ganz reifen Sommerapfel. Als er sah, wie ich die lang entbehrte Frische genoss, stopfte er mir noch zwei weitere Äpfel in die Tasche. Ich habe sie Olga mitgebracht. Um ihr zu beweisen, dass die unglaubliche Geschichte dieses Tages kein Märchen ist.
    Sie hat sich weniger Sorgen um mich gemacht, als ich befürchtet hatte. Eppstein hat sie darüber informiert, wo ich war.
    Jetzt bin ich wieder Regisseur. Ein Mann, der etwas bewegt. Ich bin wieder Kurt Gerron.
    Morgen gehen wir an die Eger.
     
    «Leute rennen über eine Treppe ins Wasser», diktiere ich. «Springen hinein. Fröhliches Planschen. Zwei Mädchen schubsen einen Jungen in den Fluss und laufen kichernd davon.»
    «Tatsächlich in der Eger?», fragt Frau Olitzki.
    «Ich habe den Drehort recherchiert. Ein schönes Bad. Mit Sprungbrett.»
    «Da möchte ich dabeisein», sagt sie sehnsüchtig. «Ich bin so langnicht mehr geschwommen. Dass wir nicht mehr in die Badeanstalt durften, das war etwas vom Schlimmsten für mich.» Sie hat aufgehört zu tippen. «Kriege ich eine Rolle?», fragt sie.
    «Schreiben Sie: Neue Szene. Eine Sekretärin nervt den Regisseur mit ihren Fragen. Großaufnahme des Regisseurs. Er rauft sich die Haare.»
    «Sie sind gut gelaunt», sagt Frau Olitzki.
    Sie hat recht. Seit ich Theresienstadt verlassen durfte, bin ich für unser Projekt optimistisch.
    Unser Projekt. Wann habe ich angefangen, es so zu denken?
    Bei jedem Film, den ich gedreht habe, gab es irgendwann in der Vorbereitung den Punkt, wo ich wusste: Das kann etwas werden. Ich hab’s im Griff. Das kann mir niemand mehr kaputtmachen. Es ist dann nie so berauschend geworden, wie ich es mir in diesem Augenblick vorgestellt habe, natürlich nicht. Aber ohne diesen Moment des Größenwahns hätte ich mich an die schwierigeren Arbeiten gar nie herangetraut.
    «Größenwahn ist die halbe Miete», hat Resi Langer gesagt.
    Ja, Frau Olitzki, ich bin gut gelaunt. Und deshalb will ich jetzt arbeiten.
    «Schwimmende Frauen», diktiere ich. «Vom Boot aus aufgenommen.»
    «Müssen an den Badeanzügen gelbe Sterne sein?»
    Ich habe mir das noch nicht überlegt. Da widersprechen sich zwei Verbote. Juden dürfen nicht ohne Stern aus dem Haus, und Juden dürfen nicht schwimmen gehen. Es ist eine Entscheidung, die ich nicht allein treffen kann. «Notieren Sie das unter Probleme .»
    Von

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