Gerron - Lewinsky, C: Gerron
weil der Rühmann das Licht nicht angemacht hatte. Dann kam er herein und diese unverwechselbare Stimme sagte: «Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Wenn sie einmal anfangen zu saufen, hören sie nicht mehr auf.» Lieferte den Satz ab wie eine Pointe in einer Filmkomödie.
Der Wallburg hat angefangen zu weinen. Der Rühmann kann mit Gefühlen nicht umgehen und tätschelte ihm ungeschickt den Rücken. Sagte immer wieder: «Ist ja gut. Ist ja gut.» Wie zu einem Kind.
Wir haben dann eine Flasche Champagner aufgemacht. Obwohl das Gebräu, das Frida unter diesem Namen verkauft, scheußlichschmeckt. Der Rühmann hat lange Zeit nur zugehört. Wollte ganz genau wissen, wie die Situation war und wie er uns helfen konnte. Beim Zuhören bewegte er die Lippen, als ob er alles, was wir sagten, mitsprechen würde. Das ist so eine Macke von ihm, wenn er sich konzentriert. Er tut das auch, wenn er Text lernt.
«Du bist wie ein Sohn für mich», sagte der Wallburg zu ihm. «Wie ein Sohn.» Nach der ganzen Warterei war er jetzt so erleichtert, dass die Tränen gar nicht mehr aufhörten. Seine Rührung war ihm peinlich, und er versuchte sie wegzuwitzeln. Lachte und weinte gleichzeitig.
Ich habe das später in Westerbork noch einmal erlebt. Bei einem Mann, den sie im letzten Moment von der Transportliste gestrichen haben. Er war schon im Waggon, als sie ihn wieder rausgeholt haben. Kein Mensch weiß warum. Stand neben dem abfahrenden Zug und heulte Rotz und Wasser. Lachte und weinte, genau wie der Wallburg. Aber der Mann in Westerbork hat damit nicht mehr aufhören können. Ist in der Meschuggenenbaracke gelandet. Und ein paar Wochen später mit dem Verrücktentransport doch noch nach Auschwitz gekommen.
Wir zählten dem Rühmann die Verbote auf. Die Schikanen. Erzählten ihm, was man über Mauthausen gehört hatte.
«Das weiß man ja alles nicht», sagte er. «Natürlich, in die Reichsfilmkammer kommt man ohne Ariernachweis nicht rein. Aber dass es so schlimm ist …»
«Es ist so schlimm», sagte der Wallburg und heulte schon wieder.
«Morgen bin ich in Berlin», sagte Rühmann. «Dann werde ich sehen, was sich tun lässt.»
Es passierte fünf Tage später. Ich war mit meinem Fahrrad unterwegs zur Probe in der Schouwburg. Auf der Brücke über die Nieuwe Keizersgracht schnitt mir ein Auto den Weg ab. Einer dieser großen schwarzen Wagen ohne Kennzeichen. Mit den getönten Scheiben im Fond.
Zwei Männer stiegen aus. Kamen auf mich zu. Nicht in Uniform, aber mit einer Art, sich zu bewegen, die ihr Zivil als Verkleidung erscheinen ließ. Keine Mäntel, obwohl es ein kalter Tag war. Der eine machte eine kleine Bewegung auf das Auto hin. Ich stieg ab und folgte ihnen. Ließ das Fahrrad einfach auf der Straße liegen.
Im Wagen saßen sie links und rechts von mir. Rochen nach Zigaretten. Ich fragte, ob ich verhaftet sei. Sie antworteten nicht.
Ich versuchte den Weg, den wir fuhren, nachzuvollziehen. Es gelang mir nicht. Wir waren lang unterwegs, schien mir. Länger als es gebraucht hätte, um zum Gefängnis des Sicherheitsdienstes in der Euterpestraat zu fahren.
Irgendwann hielten wir an.
Ein Eisenbahngleis. Ein Waggon. Kein ganzer Zug. Nur dieser eine Wagen auf freier Strecke. Die Fenster mit schwarzer Farbe zugepinselt.
Sie ließen mich einsteigen und verriegelten die Tür hinter mir. Ohne ein Wort zu sagen.
Olga war in dem Wagen, und meine Eltern waren da. Otto Wallburg und seine Ilse.
Man hatte sie zu Hause abgeholt. Vier Mann in Zivil. Nicht grob, wie man es hätte erwarten können, sondern ausgesprochen höflich. Einer hatte Mama sogar ihren Rucksack zum Auto getragen. Auch meinen hatten sie mitgebracht. Die standen bei uns immer bereit. Mit den Papieren und den nötigsten Kleidern. Wenn sie kamen, ließen sie einem keine Zeit zum Packen.
«Das kommt alles vom Heinz», sagte der Wallburg. «Ich wusste, dass er uns hier rausholen würde.»
Olga probierte jedes Fenster aus, aber sie waren beim Bemalen gründlich gewesen. Nirgends ein Spalt, durch den man hätte hinaussehen können.
Der Waggon bewegte sich. Wurde rangiert. Angekoppelt. Fuhr los.
Wir hatten keine Ahnung, wo es hinging.
Der Wallburg war überzeugt, dass es Schweden sein müsse. Papa teilte seinen Optimismus nicht. «Wenn sie uns wirklich laufen lassenwollen – warum dürfen wir dann nicht aus dem Fenster sehen? Sie spielen ein Spiel mit uns. Der Goebbels hat dem Rühmann versprochen, dass er uns in einen Zug setzt, und jetzt hält er auf
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