Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Wänden. Ein Sofa mit Häkeldeckchen. Porzellan.
Die Frau Ingenieur Zucker war gar nicht glücklich darüber, dass fremde Leute in ihrem Heim Theater spielen sollten. Sie sprach immer nur von ihrem Heim . Sehr etepetete. Eine bloße Wohnung wäre ihr nicht vornehm genug erschienen. «Wenn schon unbedingt gegessen werden muss», sagte sie, «kann ich ein paar Freundinnen zum Dinner einladen.» Dinner. In Theresienstadt. Der Ältestenrat lebt wirklich in einer anderen Welt.
Ich musste ihren Vorschlag ablehnen. Damit das Idyll rüberkommt, brauche ich eine Familie. Eine Besetzung, die nach Familie aussieht. Wir nehmen die Kozowers, die haben zwei niedliche Kinder. Er steht ohnehin auf der Liste der Leute, die in Großaufnahme gezeigt werden müssen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Der Kozower war früher mal etwas Wichtiges in der Berliner Gemeinde. Hier in Theresienstadt leitet er die Post. Er wird mir das Paket besorgen, das in der anderen Szene ausgepackt wird. Ein dänisches Paket, natürlich. Damit auch etwas Brauchbares drin ist. Mit Erbsenpulver und Kaffee-Ersatz kann ich kein großes Kino machen.
Wir kriegen das Paket gegen Quittung und müssen den Inhalt nach Drehschluss wieder abliefern. Ganz schön hart für die Leute, die in der Szene die glücklichen Empfänger spielen. So nah an gute Sachen rankommen und dann nichts davon kriegen. Aber so ist der ganze Film. Die Tomaten an den Stauden werden gezählt, und wennhinterher eine fehlt, kommt die ganze Erntemannschaft in die Kleine Festung. Sie haben sogar überlegt, die Butterbrote von den Kindern nach dem Dreh wieder einzusammeln. Bis ich ihnen erklärt habe, dass ich das Hineinbeißen unbedingt für den Film brauche. Ein kleiner Sieg. Immerhin.
Rahm legt wert darauf, dass in dem Film jede Menge Kultur vorkommt. Tschechisch-Weimar eben, und er ist der Herzog Karl August. Also habe ich Ausschnitte aus drei Theateraufführungen in das Drehbuch eingebaut. Hoffmanns Erzählungen, Brundibár und aus diesem jiddischen Stück die Szene mit dem Tanz und dem Tod des Rabbis. Der einzige Ort, wo man die Aufnahmen machen kann, ist die Bühne des Gemeinschaftshauses. Jetzt gehen schon die Eifersüchteleien los. Alle haben sie Angst, dass die andern im Film besser aussehen könnten als sie. Streiten sich um eine halbe Stunde Probenzeit. Schreiben Eingaben. Weil wir ja keine andern Sorgen haben.
Die Liste der Prominenten, die im Publikum gezeigt werden sollen, wird immer länger. Technisch ist das kein Problem. Aber so viele Köpfe, einer nach dem andern, das sieht doch nach nichts aus. Ich werde mir da etwas einfallen lassen müssen.
Und begeisterte Gesichter müssen sie mir machen. Zumindest interessierte. Damit man im Film nicht sieht, dass der Zuschauerraum gar kein Zuschauerraum ist. Sondern eine Gefängniszelle mit Bühne.
Es wiederholt sich alles. Dem Schicksalsdramaturgen gehen die Ideen aus. Ein Theater als Gefängnis? Déjà vu.
Die Schouwburg in Amsterdam. Die Joodsche Schouwburg. Ein passender Name. Das Theater der jüdischen Dramen.
Das Gebäude imposant, mit griechelnder Fassade. Ein Möchtegern-Parthenon, wie man sie in der Gründerzeit auch in Berlin gebaut hat. Reliefs und Statuen bis übers Dach. Das Foyer in weißem Marmor. Eine ganz brauchbare Akustik und die Lichtanlage frisch renoviert. Einen Teil der Scheinwerfer haben sie später nach Westerborkabtransportiert. Müssen wohl Judskis gewesen sein, die Scheinwerfer. Gleich nebenan ein gemütliches Café. Nicht unwichtig für einen verfressenen Menschen wie mich. Solang ich Cafés noch besuchen durfte. Alles in allem: ein sehr angenehmes Theater. Nur mit zu wenig Klosetts. Man hat beim Bau nicht daran gedacht, dass hier mal Leute eingesperrt sein würden.
In der Zeit, in der wir leben, sollte man immer damit rechnen.
Wenn wir gewusst hätten, dass Wiegenlied unsere letzte Inszenierung sein würde, hätten wir uns wohl ein gehaltvolleres Stück ausgesucht. Nicht so eine läppische Schmunzelkomödie um ein Findelkind. Aber wir hatten, wie so oft, keine Ahnung. Noch nicht einmal, als wir die allerletzte Vorstellung spielten.
Es passierte im ersten Akt, da wo ich diesen Säugling im Arm habe und mit ihm rede. «Zigarette gefällig?», sage ich zu ihm und mache die Pause für den Lacher, der an dieser Stelle immer kommt. Da höre ich Schritte in der Kulisse. Rücksichtslos laut. Wie ich hinschaue, marschiert dort ein ganzer Trupp SS ein. Der Anführer merkt, dass die Vorstellung läuft, sieht
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