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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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gedacht haben, alles sauber und exakt erledigt, wenn man die bestellten Menschen pünktlich in den Zug gepackt und abgeschickt hat – dann wird man sich ja wohl mit einem gemütlichen Abend im Kabarett belohnen dürfen.
    Saure Wochen, frohe Feste. Das hat schon Goethe gewusst.
     
    Die Leute drängten sich zu den Vorstellungen. Stellten sich schon eine Stunde vor Einlass an. An manchen Dienstagen konnte man abends um sieben vor der Tür der Registrierbaracke zwei Schlangen nebeneinander sehen: die ersten Theaterbesucher und die letzten Lagerzugänge. Die dann, einen Dienstag später, ebenfalls in die Revue strömten. Wenn sie nicht schon weitertransportiert worden waren.
    Man stritt sich um die guten Plätze. Sie begannen in der vierten Reihe. Die dritte blieb leer, auch bei größtem Andrang. Dort wollte sich niemand hinsetzen. Denn in den ersten beiden saß die SS. Auf dem Ehrenplatz Gemmeker. In Zivil. Wenn er den Saal betrat, standen die Zuschauer auf und warteten, bis er mit einem gnädigen Winken die Erlaubnis zum Hinsetzen erteilte. Ludwig II. Für den natürlich kein gewöhnlicher Stuhl bereitstand, sondern ein Sessel. Ein Tischchen für sein Weinglas und seinen Aschenbecher. Errauchte gute Zigarren. Ich habe sie gerochen. Neben ihm saß seine Sekretärin, das Fräulein Hassel. Das ganze Lager wusste, dass sie auch seine Geliebte war. Aber darüber machte selbst Max Ehrlich keine Witze.
    Sonst schoss er seine Pointen durchaus auf beide Hälften des Publikums ab. Ein Wortartist auf dem hohen Seil. Immer in der Gefahr, abzustürzen. In der Aufführung, die ich gesehen habe – ich war allein dort, Olga hatte sich geweigert, mitzukommen –, sagte er gleich in seiner Anfangsconférence: «Wir stammen doch alle von Abraham ab.» Und dann, als ob er sich verquatscht hätte: «Verzeihung – natürlich erst ab der dritten Reihe.» Wie im Zirkus: Wenn es nicht lebensgefährlich ist, macht es dem Publikum keinen Spaß. Ich saß in Reihe vier und konnte die SS-Leute beobachten. Bei der Abraham-Pointe schauten sie alle erschrocken zu Gemmeker hin. Erst als der lachte, meckerten sie auch.
    Sehr witzig. Typisch jüdischer Humor. Ha ha ha.
    Hätte der Herr Lagerkommandant den Daumen nach unten gedreht, sie würden den Ehrlich genauso diensteifrig totgeschlagen haben. Und hätten sich dabei ebenso gut amüsiert. Oder sie hätten ihn in den nächsten Zug nach Auschwitz verladen.
    Es muss damals die letzte Vorstellung dieser Revue gewesen sein. Nachher konnten sie das Programm nicht weiterspielen, weil ihr Star über Nacht arisch geworden war. Camilla hatte drei große Nummern, und sie war in allen großartig. «Du hast etwas verpasst», sagte ich hinterher zu Olga, und sie antwortete: «Manche Dinge muss man verpassen.»
    Natürlich, nicht alles war allererste Sahne. Weil Gemmeker so etwas mochte, gab es auch ein paar langweilige altdeutsche Kostümnummern. Aufwendig geschneidert. Auch die Texte. Ich erinnere mich an einen erinnerungsseligen Walzer und an ein Biedermeieridyll, bei dem eine ganze Postkutsche auf der Bühne stand. «Wir haben noch lange Zeit», sangen sie, und: «Es ist noch nicht so weit.» An der Stelle wurde nicht gelacht, obwohl das doch eine brillante, wenn auch höllenbittere Pointe war. Wir haben noch lange Zeit .
    Bis zum nächsten Dienstag.
    Vielleicht war es gar keine Pointe. Vielleicht war es ein Gebet. Es ist noch nicht so weit. Bitte, lass es noch nicht so weit sein.
    Auch der Lageralltag kam ein paar Mal vor, liebevoll zur Idylle hingelogen. Wenn das Publikum zum Mitsingen aufgefordert wurde, schunkelte die ganze Baracke. Nur ein paar saßen mitten in der Fröhlichkeit mit Beerdigungsmiene da und brachten die Hände nicht zum Applaus zusammen. Sie waren gekommen, um zu vergessen, und hatten es nicht geschafft.
    Max Ehrlich brillierte mit seinen Schallplattenkopien. Das war schon immer seine todsichere Nummer gewesen. Ich hab ihn sehr bewundert, damals. Weil das bei ihm alles so schwerelos war. Wie hingetupft, egal, ob er einen Blackout spielte oder den Konferenzer machte. Ach, Mama. Einen Abend lang fröhlichen Unsinn zu produzieren, das war bestimmt eine gewaltige Anstrengung für ihn. Aber man merkte sie ihm nicht an. Ein großer Künstler.
    Zu mir hat er damals gesagt: «Als Jude hast du heutzutage zwei Möglichkeiten: dich aufhängen oder Witze erzählen. Vorläufig ziehe ich die Witze noch vor.»
    Unterdessen erzählt er keine mehr. Die Last seiner Erlebnisse hat ihm die Stimme

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