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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Theresienstadt.
    «Verhungern ist nicht schmerzhaft», sagt Dr. Springer. Das ist ein Thema, mit dem er sich auskennt. Wenn er das Lager überlebt, will er eine Monographie darüber schreiben.
    Wenn.
    Hier lagen also fünf tote Menschen, und wir waren nur zu zweit, die Anny und ich. Auf der Straße fahren die Leichenkarren nach Bedarf, aber in den Gebäuden werden die Toten nur zweimal am Tag eingesammelt. Einmal am frühen Morgen und dann wieder eine Stunde vor Beginn der Ausgangssperre. Es war halb zehn, und unsere Vorstellung sollte um sechs beginnen. «Entwickeln Sie Eigeninitiative», hatte Dr. Henschel gesagt.
    Die Leichen mussten auf die Straße hinunter, das war klar. Mussten weg sein, bevor die Transportabteilung das Klavier brachte. Aber menschliche Körper sind schwer, auch wenn kein Gramm Fett an ihnen ist. Nein, nicht schwer. Unhandlich. Wir mussten uns Unterstützung besorgen. Von den Verrückten war niemand für praktische Dinge zu gebrauchen, und Pfleger gibt es zu wenige. Zum Glück war im selben Gebäude auch noch der Saal für die Blinden. Es war keine Zumutung, dass wir sie um Hilfe gebeten haben. Behinderte machen sich gern nützlich, das weiß ich aus Kolmar. Es macht sie stolz. Wir haben eine Kette gebildet, drei Stockwerke durchs Treppenhaus. Haben die Körper von einem zum andern weitergereicht. Manche Dinge sind einfacher, wenn man nicht sehen muss, was man tut.
    Eine ganze Menge Dinge.
    Um sechs Uhr fing auf unserem Dachboden die Vorstellung an. Pünktlich. Die Zuschauer saßen auf dem Boden, und das Bühnenbildbestand aus einer Pferdedecke, die wir zwischen zwei Stützbalken aufgehängt hatten. Ich hatte mein Apachenkostüm an und war der Ansager. Lud die Jahrmarktsbesucher auf mein Karussell ein. Kommen Sie, sehen Sie, staunen Sie.
    Wer fährt mit?
    Es war eine sehr erfolgreiche Premiere. Auch wenn der Kerr nicht gekommen ist. Monty Jacobs auch nicht.
    Seit der dritten Vorstellung spielen wir in dem großen Raum in der Hamburger. Haben ein richtiges Bühnenbild und Bänke für das Publikum. Eine Künstlergarderobe. Wer in meinem Ensemble ist, untersteht der Freizeitgestaltung und muss von seinem Arbeitskommando jederzeit für Proben freigegeben werden. Das habe ich alles verlangt und mit der Zeit auch bekommen. Zum Teil völlig überflüssige Dinge. Sessel in der Garderobe. Dolly Haas hat ihre gelben Rosen auch nicht gebraucht. Ich will damit etwas beweisen.
    Ich weiß nur nicht mehr, was das eigentlich ist.
     
    Die Vorstellung heute war gut. Es wurde viel gelacht. Im Psychiater-Sketch habe ich eine neue Pointe improvisiert, und sie hat eingeschlagen wie eine Bombe. Ich habe das Sigmund-Freud-Bild an der Wand angeschaut und ganz nachdenklich gesagt: «Ich glaube, es wäre noch viel schöner ohne Rahmen.» Das Wort Rahmen so verschliffen, dass man Rahm verstehen konnte. Ich glaube, es wäre noch viel schöner ohne Rahm. Dieses kollektive Einatmen, bis sich der Schreck dann im Gelächter löst, das ist einer der stärksten Effekte, die man auf einer Bühne erzielen kann. Wenn man es kann.
    Eine wirklich gute Vorstellung.
    Und trotzdem. Als ich in unser Kumbal kam, hat Olga ganz erschrocken gefragt: «Was ist passiert?» Ich wollte mir nichts anmerken lassen, aber sie kennt mich zu gut.
    Der Mann war mir schon während der Vorstellung aufgefallen. Erste Reihe, links außen. Saß die ganze Zeit mit verschränkten Armen da. Lachte nie und rührte keine Hand zum Applaus. In meiner Anfängerzeit hätte mich so ein Miesepeter-Gesicht aus der Fassunggebracht. Ich hätte versucht, nur noch für diesen einen Zuschauer zu spielen und dabei die andern verloren. Dich bring ich schon noch zum Lachen, hätte ich gedacht. Hätte dem Affen zu viel Zucker gegeben.
    Ich bin kein Anfänger mehr.
    Es war eine gute Vorstellung.
    Dass er hinterher auf mich gewartet hat, hat mich überrascht. Solche Leute gehen meistens als erste. Stehen demonstrativ schon mitten im Applaus auf. Er war sitzengeblieben. Hatte nicht applaudiert, war aber auch nicht rausgelaufen. Wartete auf mich.
    «Ich habe Sie früher für einen guten Schauspieler gehalten, Herr Gerron», sagte er. Berliner Akzent. Berliner jüdischer Akzent. Das ist eine eigene Melodie.
    «Heute nicht mehr?»
    «Doch», sagte er. «Sie waren hervorragend. Es ist staunenswert, dass man so viel Wirkung mit so wenig Charakter erzielen kann.» Sagte es nicht aggressiv, sondern traurig. Ein enttäuschter Liebhaber.
    Ich hätte einfach weggehen sollen, das meint Olga

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