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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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auch. Mich gar nicht auf eine Diskussion einlassen. Aber dafür bin ich zu neugierig. Zu eitel.
    «Wirkungen sind mein Beruf», sagte ich.
    Er nickte. Ein schmales Gesicht. Nicht abgemagert, wie die meisten hier, sondern als ob es immer so gewesen wäre. Straff. «Wenn wir uns in Berlin begegnet wären», sagte er, «hätte ich Sie um ein Autogramm gebeten. Da wusste ich von Ihnen nur, was man in den Zeitungen las.»
    Ich hätte mir eine Ausrede einfallen lassen sollen. Vor der Ausgangssperre dringend noch etwas zu erledigen, tut mir leid, auf Wiedersehen. Aber ich bin stehengeblieben.
    «Dass Sie hier den Clown machen», sagte er, «den Hampelmann, das kann man akzeptieren. Warum soll ein Hund nicht auf den Hinterbeinen laufen, wenn er dafür einen Knochen kriegt? Für einen Laib Brot würde ich Haindl die Stiefel lecken. Warum nicht? Aber ich würde dafür nicht über Leichen gehen.»
    «Und ich tue das?» Wieso habe ich das bloß gefragt? Warum kann ich das Maul nicht halten?
    Er ist Lehrer. Hat an der Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße unterrichtet. Bis sie die dann geschlossen haben. Begeisterter Theatergänger. Nach Theresienstadt ist er gekommen, weil er das EK 1 hat. Flandern, wie ich. Hat hier einen Kollegen von der Schule wieder angetroffen. Der hatte Dinge erlebt, die er nicht ertragen konnte, und darüber den Verstand verloren. «Ein Zwock, wenn Sie so wollen. Wollte wieder ein kleines Kind sein. In einer Welt leben, in der nie etwas Böses passiert. Ich hab mich ein bisschen um ihn gekümmert. Ihn ab und zu in der Kavalierskaserne besucht. Er war schrecklich abgemagert. Man musste dafür sorgen, dass er wenigstens ab und zu etwas gegessen hat. Bis er dann eines Tags verschwunden war.»
    Ich habe es Olga erzählt, und sie hat die Hände vors Gesicht geschlagen. «War das einer von den fünfen?», hat sie gefragt.
    Es war einer von ihnen. Sein Freund. Wir haben ihn die Treppe hinunterspediert und auf die Straße gelegt. Weil der Leichensammeldienst zu spät gekommen wäre. Weil unsere Vorstellung pünktlich beginnen sollte. Weil mich nichts anderes interessiert hat.
    Bis dieser Mann gekommen ist, dieser Lehrer aus Berlin, habe ich mich nicht eine Sekunde lang gefragt, ob das auch richtig war. War nur stolz auf ein gelöstes Problem. Auf unsere Eigeninitiative.
    Was bin ich bloß für ein mieses Arschloch geworden! Ein Scheißkabarett kann doch nicht wichtiger sein als ein toter Mensch. Der Mann hatte recht: Ich habe keinen Charakter mehr. Ich merke nicht mehr selber, wenn ich mich schämen müsste. In mir ist etwas abgestorben.
    Olga hat versucht, mich zu trösten. «Anders würde man es nicht aushalten», hat sie gesagt.
    Vielleicht. Aber muss man alles aushalten?
    «Sie haben seine Asche weggeschüttet», sagte der Mann. «Weil er ja keinen Namen hatte. Weil Sie es nicht für notwendig gehalten haben, sich danach zu erkundigen. Er hat Mathematik unterrichtet,damals, als wir noch unterrichten durften. Er war ein sehr beliebter Lehrer.»
    Er war ein Knochenbündel.
    Und es war eine erfolgreiche Premiere, verdammt noch mal. Es war eine gute Vorstellung.
     
    Der Film wird auch gut. Dafür werde ich sorgen. Werde mir mit dem Schnitt große Mühe geben. So sorgfältig arbeiten, dass ich viel Zeit dafür brauche. Viel, viel Zeit. Die Amerikaner, so wird heute geflüstert, haben Trier erobert. Sie stehen auf deutschem Boden. Zum ersten Mal sehe ich die Chance, diesen Wettlauf tatsächlich zu gewinnen.
    Wenn ich langsam genug bin.
    Zwei Drehtage hatten sie mir noch bewilligt. Nicht vier, wie beantragt. Aber egal. Ich werde mit dem auskommen, was ich habe. Dass wir überhaupt noch einmal drangehen durften, das war entscheidend. Es beweist, dass sie den Film nach wie vor haben wollen. Dass sie mit meiner Arbeit zufrieden sind. Dass sie mich brauchen.
    Alles andere ist unwichtig.
    Gestern ist die letzte Klappe gefallen. Ich denke immer noch in Ufa - Begriffen. Wir hatten gar keine Klappe. Die Mannschaft kam von der Wochenschau und hat nicht daran gedacht, eine mitzubringen. Gegen halb fünf waren wir mit allem fertig. Die Leute von der Aktualita haben ihre Sachen zusammengepackt und sind weggefahren. Ohne Abschied. Ich habe ja kein Fest erwartet, so wie es bei der Ufa zum Abschluss von Dreharbeiten üblich ist, aber die Hand hätte mir der Pečený schon geben können. Mir wenigstens ins Gesicht sehen. Nichts. Ich existierte nicht mehr für ihn. Ob das bedeutet, dass er den Schnitt ohne mich machen

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