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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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müssen, dass ich, als Abiturient und baldiger Kriegsteilnehmer, mir den weiblichen Körper noch nicht einmal wirklich vorstellen konnte. Nicht im Detail. Im Kunstunterricht hatten wir die Gipsabgüsse griechischer Statuen studiert, aber die entscheidenden Stellen waren immer verhüllt gewesen. Ein Versteckspiel, das sie erst zu den wirklich entscheidenden Stellen machte. Zu Hause bei Kalle hing im Salon eine Kopie von Ingres’ Großer Odaliske , doch ihre nackte Rückenansichthalf uns bei der Suche nach den Fakten der weiblichen Körperlichkeit auch nicht weiter.
    Später, im Grundkurs Anatomie, verwendete ein Assistent das genau gleiche Gemälde, um daran die medizinische Beobachtungsgabe von uns Anfängern zu schulen. «Fällt Ihnen denn nicht auf», fragte er, «dass der Künstler dieser Dame mindestens drei Rückenwirbel zuviel gemalt hat?» Es fiel mir damals nicht auf, und ist mir mit siebzehn schon gar nicht aufgefallen. Ich achtete auf anderes als auf die Länge der Rückenpartie.
    Natürlich hatte ich Phantasie, gerade bei diesem Thema. Selbst Frau Heitzendorff, die nun wirklich keine Schönheit war, hatte mich erregen können, wenn sie auf Knien den Hausflur schrubbte und der Welt ihren Hintern entgegenstreckte. Aber für alles reicht auch die beste Phantasie nicht aus.
    Der Salon, in dem die Frauen auf uns warteten, war eine Mischung aus eichengeschnitzter Bürgerlichkeit und provinzieller Demimonde. Schwere Möbel, wie sie auch in Berlin hätten stehen können oder doch in Kriescht. Aber auf den Bildern an den Wänden drehten einem die Odalisken nicht den Rücken zu, und wo ein Satyr auf eine Nymphe traf, ließ er es nicht beim Panflötenspiel bewenden. Es war, habe ich später immer gesagt, als ob George Grosz einen anatomischen Atlas illustriert hätte.
    Die Atmosphäre hatte etwas von der Schludrigkeit einer Umbesetzungsprobe. Die Damen des Hauses hatten das Stück schon zu oft en suite gegeben. Markierten die im Textbuch vorgesehene Verruchtheit nur noch in Andeutungen. Wir Neulinge versuchten vor allem, nichts falsch zu machen. Schauspielschüler, die sich vor den Profis nicht blamieren wollten.
    Ich weiß nicht mehr, wie das Geschäftliche geregelt wurde. Den Zigarettenrauch und das schwere Patschuli kann ich immer noch riechen. Ich höre auch noch das Lied, das aus dem Grammophontrichter schepperte. Pauline geht tanzen hieß es. Und ich sehe sie immer noch vor mir.
    Sie.
     
    Keine Schönheit, ganz gewiss nicht. Wirklich schöne Frauen arbeiteten nicht im Petit Paris in Jüterbog, wo man die militärische Kundschaft im Viertelstundentakt abzufertigen hatte. Sie fiel mir auf, weil sie eine gewisse Schüchternheit ausstrahlte. Als ob es sie nur durch ein Missverständnis in diesen Salon verschlagen hätte und sie gar nicht wüsste, was diese so lärmend eingefallene Meute von ihr erwartete. Ihr Gesicht hatte etwas Mäuschenhaftes. Kleine, vorstehende Zähne. Die Haare auf unentschlossene Art gekräuselt. Als hätten sie Locken werden wollen und es sich aus lauter Ängstlichkeit auf halbem Weg anders überlegt. Einen Ohrring trug sie nur auf einer Seite, einen unmöglich dicken Klunker, der noch nicht einmal den Versuch machte, echt auszusehen. Das andere Ohrläppchen war rot und entzündet. Sie hatte es wohl erst gerade durchstechen lassen, und die Nadel war nicht desinfiziert gewesen.
    Nein, eine Schönheit war sie nicht. Sie hatte feuchte Augen, weil sie geweint hatte, oder weil sie den Zigarettenrauch nicht vertrug, oder weil ich mir das alles nur einbildete. Auch sie selber rauchte, hielt eine Zigarettenspitze zwischen zwei Fingern, aber so ungeschickt, schien mir, als mache sie das zum ersten Mal.
    Sie trug einen schwarzen Unterrock. An der rechten Schulter war eine rote Rosette an den Träger genäht, die den nackten Arm und das deutlich hervortretende Schlüsselbein im Kontrast noch blasser erscheinen ließ. Die schmale Spitzenborte, die den obern Rand des Unterrocks säumte, war an einer Stelle nicht richtig angenäht und bildete – ich seh es in Großaufnahme vor mir – eine Art Schlaufe, in die man einen gekrümmten Zeigefinger hätte stecken können, um das Mädchen zu sich heranzuziehen.
    Unter dem dünnen Stoff zeichneten sich zwei kleine, feste Brüste ab. Nicht die Granaten und Melonen, von denen in nächtlichen Pritschengesprächen so aufschneiderisch geschwärmt worden war. Man hätte sie mit einer Hand umfassen können. Ihr Unterrock endete kurz über den Knien. Die Beine hatte

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