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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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sie eine Narbe, die von meiner erregten Phantasie sofort als Folge einer Auseinandersetzung im Rotlichtmilieu gedeutet wurde. Heute weiß ich natürlich: Blinddarm. Appendektomie . Tabaksbeutelnaht. Vollkommen unromantisch.
    Ich ging zum Bett und legte mich neben sie. Sie roch nach Kernseife, wie ein Dienstmädchen am Sonntag. Zog mich zu sich, auf sich. Mein unerfahrener Unterleib suchte ungeschickt nach der richtigen Öffnung. Noch bevor ich dieses rätselhafte Zusammensteckspiel richtig lösen konnte, ergoss ich mich auch schon über ihren Bauch.
    Ich bin ihr heute noch dankbar, dass sie mich wegen meines Ungeschicks nicht auslachte. Ich war nicht der erste Neuling, den man zu ihr schickte.
    Hinterher stand sie mit gespreizten Beinen über einer Waschschüssel und machte sich sauber. Dass ich auf dem Bett liegen bleiben und ihr dabei zusehen durfte, empfand ich als persönliches Geschenk.
    Zurück im Salon habe ich über mein Erlebnis genauso aufschneiderisch gelogen wie alle andern. Frau Wirtin hatte einen Koch.
    Das war sie. Die Nacht der Nächte. Jeder einzelne Moment davon ist unendlich wertvoll für mich.
    Kostbar und unvergesslich.
    Die zehn Minuten im Puff von Jüterbog sind alles, was ich habe.
     
    Und heute wohne ich in einem Bordell. In einem Filmdrehbuch würde ich das Detail streichen. Die Wirklichkeit trägt zu dick auf.
    Hier in Theresienstadt zahlt niemand fürs Liebe-Machen. Der Sternberg hat das immer so genannt, in seinem amerikanisierten Wienerisch. Hier hat niemand Geld. Außer der Ghettowährung natürlich, mit der man sich noch nicht einmal den Arsch abwischen kann. Wer es doch geschafft hat, ein paar richtige Banknoten einzuschmuggeln, in einer Dose Körperpuder oder einer doppelten Schuhsohle, der investiert in wichtigere Dinge. Kartoffeln oder ein Stück Brot.
    Liebe kriegt man gratis. Wenn man das schnelle körperliche Abreagieren Liebe nennen kann. Mich betrifft es ja nicht, aber ich beobachte es an jeder Ecke. Man begegnet sich, man sieht sich an, man nickt sich zu. Keine langen Gefühlsarien. Es muss schnell gehen. Keiner weiß, wie lang er noch Gelegenheit dazu haben wird. Die jungen Menschen – nicht nur die jungen – haben es so eilig wie wir damals in Jüterbog. Eiliger. Wir fuhren nur in den Krieg.
    Man sieht hier die seltsamsten Pärchen. Eine Sekretärin aus dem Ältestenrat – man nennt sie die schwarze Spinne – sammelt junge Männer. Lässt sich von ihnen den Hof machen. Lockt sie mit dem Versprechen an, sie vor der Transportliste zu bewahren. Ich mag mir nicht vorstellen, womit ihre Verehrer für diese Gefälligkeit bezahlen müssen. Die Frau ist mindestens sechzig. Mehr. Saugt ihre jungen Gigolos aus und lässt sie dann fallen. Setzt sie auf die Liste und sucht sich den nächsten.
    Einmal hat ein Mann versucht, seine Frau zu erstechen. In dem kleinen Park hinter dem Kinderheim. Er war eifersüchtig, weil sie ihn mit einem anderen betrogen hatte. Das hat niemand verstanden. Das Umbringen schon, aber nicht die Eifersucht. Das ist eineEmotion, da war man sich einig, die hier wirklich keinen Sinn mehr macht. Die Frau war nicht einmal schwer verletzt. Er hatte kein scharfes Messer auftreiben können. Sie sind dann zusammen auf Transport gegangen. In einem Drehbuch hätte ich mir die große Szene schreiben lassen, in der sich die beiden im Viehwaggon versöhnen. Umarmung und langsam ausblenden.
    Man gewöhnt es sich an, solche Geschichten anzuschauen, als ob es wirklich nur Geschichten wären. Ohne sich davon berühren zu lassen. Es geht wohl auch den Beteiligten nicht anders. Wie in dem Lied, das wir in Jüterbog gegrölt haben: Die Liebe ist ein Zeitvertreib, man nimmt dazu den Unterleib .
    Wenn man nicht Gerron heißt.
    Einen Partner für die schnelle Liebe zu finden ist leicht. Einen Ort, an dem man es ungestört tun kann, sucht man sehr viel länger.
    Konsequenzen hat kaum jemand zu fürchten. Direkt neben uns, im nächsten Bordellkämmerchen, wohnt Dr. Springer, der berühmte Chirurg aus Frankfurt an der Oder. Er leitet die Krankenstation und hat mir einmal erklärt: «Die Mangelernährung im Lager hat auch ihre Vorteile. Rahm besteht darauf, dass jede Schwangerschaft abgetrieben wird, aber wir haben wenig Probleme damit. Bei genügend Unterernährung kriegen die Frauen ihre Regel nicht mehr.» Man muss die Tatsachen so nehmen, wie sie sind.
    Meine Tatsache ist, dass Rahm diesen Film von mir haben will. Wenn ich ihn drehe, werde ich nie wieder Respekt vor mir selber

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