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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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ausgemustert worden, aber nicht aus Altersgründen, sondern weil er nicht mehr in der Lage war, jemanden zusammenzustauchen. Nach einem Schrapnell-Treffer fehlte ihm dazu der Unterkiefer.
    Im Zivilleben Beamter in einem Kleinstadt-Rathaus, hatte er von dort einen unerschütterlichen Glauben an Vorschriften und Reglemente mitgebracht. Ein schlampiger Gruß oder ein nicht korrekt geschlossener Kragenknopf brachten ihn, autoritätsgläubig, wie er war, total aus der Fassung. Für uns bedeutete das ständiges Nach- und Strafexerzieren. So dass wir auch an den sogenannten Ruhetagen nie wirklich Ruhe hatten.
    Die Veteranen ließen ihn merken, wie lächerlich sie ihn gefundenhaben würden, wenn ihnen der Aufwand dafür nicht zu groß gewesen wäre. Seine Befehle führten sie aus, aber auf provozierend distanzierte Weise. Der Brecht, dieser Scheißtheoretiker, hätte sie als Musterbeispiele für seine Verfremdung benutzen können.
    Es gab damals die Regel, dass man an der Front, wo es kein Lokal zum Einsperren gab, stattdessen an einen Baum oder an ein Wagenrad gebunden werden konnte. Zwei Stunden Anbinden für jeden Tag Arrest. Als Backes einem von den Veteranen – ich weiß nicht mehr, um was es ging – mit dieser Strafe drohte, unterhielten sich die andern demonstrativ und lautstark über den Fall eines Offiziers, der beim Sturmangriff, tragisch, tragisch, von einer verirrten Kugel aus den eigenen Reihen in den Hinterkopf getroffen worden war. Danach hatten sie Ruhe.
    Dabei war Backes kein Feigling. Für Angst war er zu dumm. Drückte sich bei Angriffen nicht wie andere Offiziere, sondern war immer in vorderster Reihe mit dabei. Es stand wohl so in seiner Dienstvorschrift.
    Unser Standort war Poelcapelle, acht Kilometer von Ypern entfernt. In normalen Zeiten könnte man den Weg locker in zwei Stunden zurücklegen. Aber allein zwischen diesen beiden Orten sind Zehntausende von Menschen für nichts und wieder nichts verreckt. Ypern haben wir Deutschen trotzdem nie eingenommen.
    Wir Deutschen? Dass man sich diesen Reflex nicht abgewöhnen kann! Dabei haben sie es mir schriftlich gegeben, dass ich nicht mehr dazugehöre.
    Poelcapelle war ein Trümmerhaufen. Als ob ein Kind aus einem Ausschneidebogen ein Dorf gebastelt und dann mit dem Hammer draufgehauen hätte. Am besten erhalten war die Kirche. Nur ihrem Turm hatte man die Spitze weggeschossen. Der Regimentsstab war in einem Gebäude untergebracht – es war früher mal Rathaus oder Schulhaus oder beides gewesen –, von dem immerhin noch die Hälfte stand. Wir Muschkoten hausten in den Kellern. Je öfter wir vorn an der Front gewesen waren, desto luxuriöser kamen sie uns vor.

Das Dorf gleich nebenan hieß Langemarck. Das berühmte Langemarck. Wo die patriotischen Studenten «Deutschland, Deutschland, über alles» gesungen haben, während sie fröhlich ins Maschinengewehrfeuer marschierten. Was natürlich totaler Quatsch ist. Mit vollen Hosen marschiert niemand fröhlich.
    Langemarck.
    Heute stehn sie in Deutschland alle stramm, wenn sie das hören. Wer es nicht tut, den besuchen bald einmal die Männer in den schwarzen Ledermänteln. Für uns hat es damals nichts bedeutet.
    Die einzige Geographie, die uns interessierte, war die des Überlebens. Wo man dem feindlichen Feuer ausgesetzt war. Wo es Deckung gab. Die nächste Sappe, der nächste Drahtverhau. Ein Granattrichter, in dem man Schutz suchen konnte.
    Langemarck war uns scheißegal.
    Ein ganz gewöhnliches Kaff, so wie unser Poelcapelle ein ganz gewöhnliches Kaff war. Häuser ohne Dächer. Eine kaputte Kirche. Ein Schulhaus mit Einschusslöchern. Den Mythos haben sie erst später daraus gebastelt. Ein Schreibtischkrieger hat sich damit den Dienst an der Front erspart. Ein Alemann. Man kann aus jedem Toten einen Helden machen. Man darf sich bloß nicht durch Tatsachen stören lassen.
    Die Sache ist gar nicht bei Langemarck passiert, sondern weiter westlich bei Bixschoote. Der Ortsname klang für Propagandazwecke wohl nicht deutschnational genug. Langemarck , das hat etwas Heroisches. Wegen der Vokale. Wenn wir für einen Film den Namen des jugendlichen Helden suchten, musste auch immer ein markiges A drin sein.
    Wir waren keine Helden. Die Kriegsbegeisterung der ersten Tage hatte man uns schon in Jüterbog ausgetrieben. Bei uns träumte keiner vom Ruhm. Nur davon, noch einmal nach Hause zu kommen. Mit möglichst vielen unversehrten Körperteilen. Auf posthume Lorbeerkränze war geschissen.
    Wenn sie heute ihre

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