Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Jude arbeitet am inneren Ausbau des Staates wie die Made am inneren Ausbau des Apfels.» Er unterschreibt dort nicht mehr als Rainer und nicht mehr als René, sondern neuerdings als Reinhart. Er war schon immer ein anpassungsfähiges Arschloch.
Nur er?
Wie komme ich dazu, ihm Vorwürfe zu machen? Ihn zu verachten? Bin ich etwa besser?
Moral ist Luxus. Ganz angenehm für Leute, die sich so was leisten können. Ich gehöre nicht mehr dazu. In Theresienstadt heißt Luxus: eine Scheibe Brot. «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral», hat der Brecht uns singen lassen. Dieser Steckenpferdproletarier, der bei Schlichter Hummer bestellte und keine Ahnung hatte, was Hunger ist. Aber damit hat er recht gehabt: Erst kommt das Fressen.
Erst kommt das Überleben.
Wenn man die Moralbrille mal absetzt und sich den Alemann ganz nüchtern ansieht, einfach als das Ergebnis einer Rechenaufgabe – was hat er dann getan? Den Krieg überlebt. Das haben viele nicht geschafft. Er wird auch die Nazis überleben. Was wahrscheinlich mehr ist, als man einmal von mir wird sagen können. Und als nächstes … So wie ich ihn kenne, studiert er für alle Fälle schon mal heimlich Stalins gesammelte Werke. Oder Churchills. Wahrscheinlich beides. Weil man ja noch nicht wissen kann, mit wem man einmal besser fährt.
Wer unter die Wölfe fällt, muss mit ihnen heulen. Kantaten singen bringt da nichts.
Wer in Rahms Gewalt ist, muss seine Filme für ihn drehen.
Ich bin ja nur neidisch auf den Alemann. Weil er, anders als ich, immer beweglich genug war, sich das Rückgrat zu verbiegen. Im Bataillonsstab Beileidsbriefe zu schreiben. Beneidenswert eigentlich. Wir haben im Krieg alle von einer Nische geträumt, in der man vor Kugeln geschützt ist. Waren nur nicht schlau genug, eine zu finden. Zu blöd. Oder zu anständig. Was letzten Endes auf dasselbe hinausläuft.
Ein toter Held ist auch nur eine Leiche.
Wenn der Alemann Jude wäre und hier in Theresienstadt gelandet, er hätte schon längst eine Stelle beim Ältestenrat. Wäre unersetzlich. Würde Deportationslisten schreiben und die Leute, die er draufsetzt, mit schönen Worten trösten. Alemänner überleben immer. Weil sie lieber lebendig sind als moralisch.
Statt ihn zu verachten, sollte ich ihn mir als Vorbild nehmen. Sollte es machen wie er. Rainer René Reinhart Gerron.
Ich habe gelernt, ohne Freiheit zu leben. Ohne Hoffnung. Warum, verdammt noch mal, fällt es mir so schwer, es ohne Gewissen zu tun?
Man verlangt ja nicht von mir, dass ich jemanden umbringe. Nur einen Film soll ich drehen. Was ist das schon? Bewegte Bilder. Man sieht sie sich an, und eine Stunde später hat man sie schon wieder vergessen. Sie produzieren seit so vielen Jahren so viele Propagandafilme – was macht da einer mehr für einen Unterschied?
Wenn ich tue, was Rahm von mir verlangt, kann mir niemand einen Vorwurf machen. Es wird sich keiner freiwillig an meiner Stelle für den nächsten Transport melden.
Ich habe mich auch nicht freiwillig gemeldet, als sie meine Eltern nach Sobibor schickten.
Ich werde den Film drehen.
Ich kann das nicht tun.
Ich will kein Alemann sein. Ich hätte nicht in einem Büro sitzenund trauernde Hinterbliebene mit erfundenen Heldentaten bescheißen wollen. Da war ich schon lieber ein ganz gewöhnlicher Soldat.
Wir waren die 8. Reserve-Ersatz-Kompanie, 3. Reserve-Ersatz-Regiment, 2. Reserve-Ersatz-Brigade, 27. Reserve-Korps in der 4. Armee. Ersatz, Reserve, Ersatz. Lauter blutige oder, genauer: noch unblutige Kriegsanfänger. Dazu ein paar Überlebende des ersten Grabenwinters. Ihre Einheiten hatten so viele Verluste gehabt, dass es sich nicht gelohnt hatte, sie noch einmal aufzufüllen.
Diese Veteranen waren in unseren Reihen so fehlbesetzt wie Staatsschauspieler in einer Laientheateraufführung. Sie suchten, über das Nötigste hinaus, kaum Kontakt mit uns. Warum mit jemandem Freundschaft schließen, der mit großer Wahrscheinlichkeit schon sehr bald tot sein wird?
Kompanieführer war Oberleutnant Backes, eine ungewöhnliche Besetzung. Die Leutnants und Oberleutnants der andern Kompanien waren alle ganz jung, zwanzig oder einundzwanzig, während er schon Mitte vierzig war. Ein Reserveoffizier, für den der Krieg zwei Jahre zu früh ausgebrochen war. 1916 wäre er altershalber ganz aus der Armee ausgemustert worden, aber nun hatte er noch einmal rangemusst in seiner zu eng gewordenen Uniform. Er ist dann, wie ich später erfuhr, tatsächlich pünktlich
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