Gerron - Lewinsky, C: Gerron
beließ. Schon zur Autogrammstunde war ich leicht angesäuselt erschienen. Wir konnten den Film ja nicht jedes Mal wieder absitzen. Außer dem Rühmann kenne ich kaum einen Kollegen, der sich gern auf der Leinwand sieht. Nachdem man uns dem Publikum vorgestellt hatte, waren wir für die anderthalb Stunden in einer Bar verschwunden.
Ich bin schon immer ein Idiot gewesen. «Warum hast du dich damals von mir küssen lassen?», fragte ich sie.
«Weißt du das wirklich nicht?»
Ich musste zugeben: Ich wusste es nicht. Ich hatte mir auf ihr so plötzlich verändertes Verhalten nie einen Reim machen können.
«Aus demselben Grund, warum du dann weggelaufen bist.»
Ich kapierte immer noch nichts. «Doof ist doof», pflegte Papa zu sagen, «da helfen keine Pillen.»
«Schau, es war so: Ich sah ja wirklich nicht aus wie ein Revuegirl» – ich wollte etwas einwenden, aber sie winkte ab –, «und trotzdem machten sich dauernd alle Männer an mich heran. Ich bilde mir nichts darauf ein. Nach dem Krieg, als es nichts mehr gab, habensich die Leute auch um die schlechtesten Fleischstücke gerissen. Aber es war lästig.» Das Sächsische in ihrer Sprache war weniger offensichtlich, als ich es in Erinnerung hatte.
«Da hab ich mir halt gedacht», fuhr sie fort, «nimm dir einen als festen Freund, dann lassen dich die andern in Ruhe.»
«Warum gerade mich?»
Sie legte mir ihre Hand auf den Arm. Dieselbe Geste wie damals bei den Leintüchern. «Du warst der einzige, der mit einem Kuss zufrieden sein würde.» Und als ich immer noch nicht kapierte: «Zuerst habe ich es nicht gewusst. Dann haben mir die andern erzählt, wo dich der Granatsplitter erwischt hat. Ich wusste also: Von dem habe ich nichts zu befürchten.»
Sie hatte recht, und es war lang her. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Ihre Verliebtheit war nicht unechter gewesen als meine eigene. Aber auch nach fünfzehn Jahren erfährt man nicht gern, wie lächerlich man sich gemacht hat.
Sie muss mir die Reaktion vom Gesicht abgelesen haben. Hatte es plötzlich eilig. «In unserm Beruf muss man früh raus», sagte sie. Und, schon unter der Tür: «Du bist verheiratet, habe ich gelesen. Wie geht deine Frau damit um?»
Ich habe mich wieder an den Tisch gesetzt und mich fürchterlich besoffen. Sie hatten dort wirklich keinen guten Wein.
Olga ist zurückgekommen. «Du hast fast nichts gegessen», sagt sie. Als ob das jetzt wichtig wäre. Als ob das der richtige Moment wäre für ein bisschen Konversation, für ein paar nette Zeilen Dialog zwischen einem altgedienten Ehepaar. Wie in einem dieser Quasselstücke, in denen es um nichts geht. Wie wir sie an der Schouwburg gespielt haben, damit die Leute zwei Stunden lang die Wirklichkeit vergessen konnten. Austauschbare Sätze, die nichts bedeuten. «Ich war heute beim Friseur.» «Hast du das Licht im Flur ausgemacht?» «Du hast fast nichts gegessen.»
Was soll ich ihr darauf antworten? «Es schmeckt wie Kotze»? Das weiß sie selber. Wir kennen das Menu. Es ist jeden Tag dasselbe.
Und es geht ja auch gar nicht ums Essen. «Hast du dich entschieden?», will sie eigentlich fragen. «Wirst du den Film machen?» Eigentlich will sie mich an den Schultern packen. Mich schütteln und ohrfeigen. Mir ins Gesicht schreien: «Hör auf mit deinem Selbstmitleid! Wann wirst du endlich einsehen, dass du keine Wahl hast?»
Sie hätte das Recht dazu. Weil es nicht nur um mich geht. Weil sie genau weiß: Wenn ich hier den Helden spiele, und sie mich dafür in den Zug stecken, dann hockt sie im gleichen Waggon. Das möchte sie mir sagen.
Eigentlich.
Aber sie ist Olga, und Olga tut so etwas nicht. Olga beherrscht sich. Macht ihre Stimme ganz selbstverständlich. Als ob sie sich wirklich nur um meine Ernährung Sorgen macht. «Du hast fast nichts gegessen», sagt sie.
Ich müsste sie für diese so tapfer vorgetäuschte Alltäglichkeit bewundern. Müsste ihr dankbar sein, dass sie versucht, einen Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten. Aber in mir steigt ein Zorn auf, eine sinnlose, kaum beherrschbare Wut. Die gleichzeitig auch Angst ist. Derselbe Zorn wie damals auf dem Schaukelpferd. Ich möchte schreien und um mich schlagen. Ich will nicht, dass man mir Fragen stellt, überhaupt keine Fragen, weil es nur die eine gibt: «Will ich als Mann sterben oder als Schwein weiterleben?» Ich kann sie nicht beantworten, ich will sie nicht beantworten, mir fallen keine Ausreden mehr ein, sondern nur noch die Wahrheit, und es darf
Weitere Kostenlose Bücher