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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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anzunehmen, dass ich ihr folgen würde. Das verunsicherte mich zusätzlich.
    Ein kleiner Bach floss durch den Ort, und eine kleinbürgerlich romantische Promenade führte am Wasser entlang. Obwohl ich schon viele Wochen hier lebte, hatte ich sie vorher nie entdeckt. Wer gerade erst sein drittes Bein verloren hat, macht keine weiten Ausflüge.
    Unter einem Baum blieb Lore stehen und wartete auf mich. «Wenn du mich küssen willst, kannst du es jetzt tun», sagte sie sachlich. «Ich muss dir aber sagen: Ich bin darin nicht geübt.» Dann schloss sie die Augen und spitzte die Lippen.
    Ich habe sie geküsst, ja. Ich kam da nicht drum herum. Sie steckte ihre Zunge in meinen Mund. Sie hatte wohl irgendwo gelesen, dass man das so macht. Es fühlte sich an, als ob sie nach einem verlorenen Bonbon fahndete. Ich legte meine Arme um sie, weil sie das zu erwarten schien. Ein Beobachter hätte uns für ein Liebespaar halten müssen. Das Ganze war mir ein bisschen peinlich, aber andererseits war es auch gut zu wissen, dass ich die Rolle des Verführers überzeugend spielen konnte.
    Als wir uns dann, mehr verlegen als erregt, voneinander gelöst hatten, sagte sie plötzlich: «Ich habe einen Verlobten, weißt du. Er darf mir nicht schreiben, wo er ist, aber er kämpft gegen die Russen. Wenn er überlebt, werden wir heiraten. Seine Eltern haben auch eine Fleischerei.»
    «Es wird ihm schon nichts passieren», sagte ich.
    Sie fasste meine Hand und betrachtete die Handfläche.
    «Seine Lebenslinie ist länger als deine», sagte sie.
    Ich versuchte, aus der Nummer herauszukommen, ohne Lore allzu sehr zu verletzen. Sie hatte sich küssen lassen, also wollte siebestimmt auch mehr. Das bedrohte mich. «Wo du doch verlobt bist», setzte ich an, «ist es vielleicht besser …»
    Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe es mir gut überlegt. Wenn du hier mein Freund sein willst, ist das sicher nicht schlecht für uns beide. Freust du dich?»
    «Ich bin der glücklichste Mensch der Welt», log ich.
    Und nahm am nächsten Tag den Zug in Richtung Heimat.
     
    Ich habe Lore noch ein Mal wieder getroffen. Das war 1930 in Leipzig.
    Der Blaue Engel war gerade rausgekommen, und der Jannings, die Valetti und ich tingelten durch Deutschland, um für den Film Reklame zu machen. Eigentlich hätte auch Marlene dabei sein sollen, aber die war gleich nach der Berliner Premiere in Richtung Hollywood verschwunden.
    An jenem Abend saßen wir nach der Vorstellung im Foyer des U.T.-Kinos an unsern Tischchen und gaben brav Autogramme. Die Ufa hatte Karten mit unseren Photos drucken lassen. Sie gingen weg wie warme Semmeln.
    Als sie an der Reihe war, griff ich automatisch nach der nächsten Karte und fragte: «Wie ist Ihr Name, bitte?»
    «Kennst du mich nicht mehr?»
    Sie war tatsächlich dick geworden. Es stand ihr gut. Auch die langweilige Frisur mit den ondulierten Haaren. Es gibt diesen Typ Mensch, der immer falsch besetzt scheint, solang er jung ist. Jetzt, wo Lore um die Vierzig war, passte sie gut in sich hinein. Mir selber ging es ja ähnlich: Wer mich als den dicken Gerron kennenlernte, konnte sich nie vorstellen, dass ich einmal ein schmales Handtuch gewesen war.
    Sie bestand darauf, dass ich ihr eine persönliche Widmung auf die Autogrammkarte schrieb. «Mein Mann glaubt mir sonst nicht, dass ich dich von früher kenne.»
    Vom obligaten gemütlichen Beisammensein mit den örtlichen Presseleuten meldete ich mich ab. Es sei da ganz überraschend eineewig nicht mehr gesehene Verwandte aufgetaucht, mit der müsse ich unbedingt ein paar Takte reden. Die Kollegen glaubten mir die Verwandtschaft. So sorgsam ich meinen Ruf als Schürzenjäger all die Jahre gepflegt hatte – Lore war nicht die Sorte Frau, bei der man an eine Affäre denkt.
    Wir saßen in einer ungemütlichen Weinstube, wo wir die einzigen Gäste waren. «Der Wein ist hier nicht gut», sagte Lore, «dafür hat man seine Ruhe.» Sie dachte immer noch so praktisch wie damals.
    Wir stellten die üblichen Fragen, und es gab nach anderthalb Jahrzehnten überraschend wenig zu erzählen. Meine Karriere hatte sie in den Zeitungen verfolgt. Bei ihr war alles so verlaufen, wie es zu erwarten gewesen war. Ihr Verlobter, der mit der langen Lebenslinie, war zweimal verwundet worden. Nach dem Krieg hatten sie dann geheiratet. «Drei Kinder und zwei Fleischergeschäfte.» So wie sie es sagte, war ihr beides gleich wichtig.
    Es muss am Wein gelegen haben, dass ich es nicht bei dieser oberflächlichen Plauderei

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