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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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ich eifrig teil. Nicht nur, weil das zu meiner Rolle gehörte. Meine Phantasie hatte unter der Verwundung nicht gelitten. Wer kann schon sagen, wie solche Mechanismen funktionieren? Der Matroseohne Beine gewann vielleicht jede Nacht im Traum einen Hundertmeterlauf.
    Die wichtigste, immer wieder diskutierte Frage war: Welche von den Frauen würde sich am ehesten rumkriegen lassen? Bei Lore, da war man sich einig, hatte niemand eine Chance. Jeder hatte es schon einmal bei ihr probiert, und sie hatte alle abblitzen lassen. «Pastorentochter», lautete das Verdikt. Was nichts mit Lores Herkunft zu tun hatte – ihr Vater war Fleischermeister –, sondern bedeuten sollte: verklemmt, verbiestert, uninteressant.
    Gerade diese Aussichtslosigkeit des Unterfangens machte sie für mich attraktiv. Ich begann mit Lore zu schäkern. Nannte sie «meine unwiderstehliche Loreley». Machte ihr die übertriebensten Komplimente. Die sie nicht zur Kenntnis nahm oder einfach weglachte. Lore stammte aus Leipzig. Sogar aus ihrem Gelächter war die sächsische Intonation herauszuhören. Anfassen ließ sie sich nicht. Nur einmal, als sie gerade zwei volle Bettpfannen zur Latrine trug, schaffte ich es, ihr meinen Arm um die Hüfte zu legen. Sie konnte mich nicht wegstoßen, ohne die Scheiße auszukippen.
    Die anderen, die meine Krankengeschichte kannten, hielten mein Verhalten für einen fröhlichen Spaß. Mindestens so komisch wie die falsche Freundlichkeit, mit der sie dem einzigen religiösen Juden in der Mannschaft jeden Tag von neuem eine Extraportion Speck oder Schinken anboten. Was, wie ich mich zu erinnern meine, überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun hatte. Der war damals noch nicht so allgemein in Mode. «Na, Kurt», fragten sie mich grinsend, «wie ist denn deine Loreley im Bett?» Und ich sagte: «Ein strammer Feger.»
    Das Spiel hätte noch lang weitergehen können, aber dann passierte aus heiterem Himmel das Unerwartete: Lore hörte auf, sich zu wehren.
     
    Im Hof des Lazaretts gab es ein Waschhaus, wo auch der Lagerraum für die frischen Leintücher war. Man ging gern dorthin, nur schon, weil es ganz anders roch als im Hauptgebäude. Für einmal nicht Wundbrand und das allgegenwärtige Karbol, sondern Seifenflocken und Sauberkeit. Ich erinnere mich – Großaufnahme – an ein Regal, voll mit den blau-weißen Packungen von Hoffmann’s Silber-Glanz-Stärke . Das Bild auf der Schachtel hatte ich als Kind immer ausschneiden dürfen: eine weiße Katze, die ihr Spiegelbild in einem perfekt gestärkten steifen Kragen betrachtet. Jetzt schien es mir seltsam unpassend für eine militärische Einrichtung.
    Ich weiß nicht mehr, ob ich Lore damals nachgegangen bin, oder ob wir uns zufällig dort trafen. Egal. Sie war da, und ich war da. Von nebenan hörte man jemanden fluchen. Die große Wäschemangel war wieder mal kaputt.
    Ich werde wohl, wie es meiner Rolle entsprach, etwas trivial Verführerisches gesagt haben. Habe sie vielleicht um einen Kuss angefleht, mit meinem Stapel Leintücher auf den Armen. Sie hätte daraufhin, so entsprach es meinem Drehbuch, verächtlich lachen und eine spitze Bemerkung machen müssen. Stattdessen legte sie ihre Hand auf meinen Arm – mit dem großen Leintuchpacken war ich so wehrlos wie sie damals mit den Bettpfannen – und sagte: «Heute Abend, wenn alle zum Essen gehen.» Dann war ich allein.
    Nebenan begann sich die Kurbel der Wäschemangel quietschend zu drehen.
    Den ganzen Tag war ich verwirrt. Ich hatte Lore bei mir eingeordnet – Pastorentochter, verklemmt, für ein Techtelmechtel nicht zu haben – und mich entsprechend verhalten. Es war ein Spiel gewesen, nicht mehr. Zumindest hatte ich mir das einreden können. Und jetzt änderte sie plötzlich die Regeln. Das machte mir Angst. Nicht nur, weil ich mir ihr verändertes Verhalten nicht erklären konnte. Viel schlimmer. Sie bedrohte damit mein neues Selbstbild, das ich mir gerade mühsam zurechtzuzimmern versuchte. Es ging mir wie den Menschen in Großpapas Geschichte: Noch nicht darin geübt, auf nur zwei Beinen zu laufen, geriet ich leicht aus dem Gleichgewicht.
    Sie hatte mir keinen Treffpunkt genannt. Ging aus dem Haus, und ich folgte ihr. Das Lazarett lag dreißig Kilometer hinter der Front, in einem kleinen Städtchen, das keinerlei Spuren von Kämpfen aufwies.
    Lore sah sich nicht ein einziges Mal um. Marschierte so energisch die Straße entlang, wie sie auch im Lazarett von Bett zu Bett stapfte. Schien ganz selbstverständlich

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