Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Attraktion, deren Mechanismus mir erst sehr viel später klargeworden ist. All die Scheußlichkeiten, die man in einem Lazarett jeden Tag zu sehen bekommt, taten mir auf verdrehte Weise wohl. Waren das einzige, was in meiner Situation Trost sein konnte. Dass es Menschen gab, denen es noch schlimmer ergangen war als mir.
Schon als Patient hatte ich mich nützlich gemacht. Sobald ich wieder laufen konnte. Unterdessen war mein Bett längst neu vergeben. Ich war als repariert aus den Listen gestrichen. Was verheilen konnte, war verheilt. Das andere konnten mir auch hundert Operationen nicht zurückgeben.
Sie ließen mich dableiben, weil es an Personal fehlte. Stellten nicht viele Fragen. Waren froh darüber, dass hier einer freiwillig die Arbeiten übernahm, vor denen sich sogar die opferwütigsten Rotkreuzhelferinnen ekelten. Einmal tippte ein Krankenwärter an mein Eisernes Kreuz und sagte: «Den Bettpfannenorden hätten sie dir verleihen sollen.»
Wahrscheinlich hielten sie mich für ein bisschen verrückt. Wahrscheinlich war ich das ja auch.
Ich erinnere mich an einen Matrosen – ich weiß nicht, warum er bei der Infanterie gelandet war und nicht bei der Marine –, dem hatten sie die Beine abgenommen, ganz weit oben, und seine Arme hatte es auch erwischt. Jetzt lag er da, oben im Gips und unten nicht mehr vorhanden, und hatte zu allem Elend auch noch eine Magengeschichte eingefangen. In der permanenten Hektik konnte man es mit der Hygiene nicht so genau nehmen. Es lief nur so aus ihm heraus. Jedes Mal, wenn ich ihm den Hintern sauber machte, musste ich eine Handbreit weiter unten auch gleich den vollgeschissenen Verband wechseln.
Er versuchte dann immer, mir etwas zu sagen. So unwahrscheinlich das in der Situation auch war, seinem Gesichtsausdruck nach sollte es etwas Lustiges sein. Ich verstand sein breites Platt nicht. Mit all dem Morphium, das sie ihm spritzten, konnte er auch nicht richtig artikulieren. Die Ärzte waren fest davon überzeugt, dass er nicht überleben würde, weil kein Mensch aushalten konnte, was er auszuhalten hatte. Aber jedes Mal war er am nächsten Tag immer noch da. Und am übernächsten. Schließlich habe ich verstanden, was er mir die ganze Zeit sagen wollte.
«Alles besser als tot sein», wollte er sagen.
Was mich schließlich nach Berlin zurücktrieb, war eine Liebesaffäre. Die nicht stattfand. Natürlich nicht. Die sofort aufhörte, als die Gefahr bestand, meine Gefühle könnten erwidert werden. Gefühle, die nicht wirklich existierten.
Es war alles so kompliziert.
Sie hieß Lore, Lore Heimbold. Trug ein schmal gestreiftes blauweißes Kleid, hochgeschlossen. Die Rotkreuzbrosche am Hals. Eine weiße Schürze. Sie kann nicht Tag und Nacht in dieser Uniform herumgelaufen sein. Zumindest das weiße Häubchen wird sie zwischendurch mal abgelegt haben. Aber wenn ich an sie denke, sehe ich sie in dieser sterilen Schwesterntracht. Die Schürze so knisternd gestärkt wie Mamas Blusen.
Die ganze Person permanent frisch gestärkt. Zupackend, sachlich und an Männern demonstrativ desinteressiert. Eine Frau, bei der ich ganz bestimmt keine Chancen hatte. Das perfekte Übungsobjekt.
Lore war ein paar Jahre älter als ich. Keine Schönheit, da kann ich mir die Erinnerung zurechtfrisieren, wie ich will. Auch nicht ausgesprochen hässlich, aber keine Frau, nach der man sich auf der Straße umdrehte. Die Nase zu breit und der Mund zu klein. Kurzsichtige Augen, obwohl sie keine Brille trug. Nicht eigentlich dick, aber man ahnte, dass sie es irgendwann einmal sein würde.
Später hat sich diese Vermutung bestätigt.
Die meisten der Rotkreuzhelferinnen hatten sich zum Lazarettdienst gemeldet, ohne zu wissen, was sie dort erwartete. Aus dem vagen Gefühl heraus, auch einen Beitrag leisten zu sollen. Hatten sich ausgemalt, wie sie heldenhaften Soldaten die fiebernde Stirn kühlten und dafür dankbar angelächelt wurden. Und waren dann beleidigt, weil sie die ganze Drecksarbeit machen mussten. Lore schien das nicht zu stören. Sie tat, was zu tun war. Wenn sie sich vor Blut und Eiter ekelte, ließ sie sich das nicht anmerken.
In der Männergesellschaft der Krankenwärter waren die Rotkreuzschwestern ein zentrales Thema. In langen nächtlichen Debatten wurde akribisch aufgelistet, welche körperlichen Vorzüge jede einzelne von ihnen besaß. Man malte sich in genüsslichem Detail aus, was man, wenn man denn die Gelegenheit dazu bekäme, mit ihr anstellen würde. An diesen Diskussionen nahm
Weitere Kostenlose Bücher