Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Rechnung stellen. «Särge glauben sie einem immer», meinte Otto.
«Und wenn ich Meldung mache?»
Er sah mich an und schüttelte den Kopf. «Das werden Sie nicht tun. Weil Sie nämlich ein vernünftiger Mensch sind.»
«Sind Sie da ganz sicher?»
«Ja», sagte Otto. «Es ist nun mal so.»
Wir machten gemeinsam, was wir konnten. Viel war es nicht.
Ein paar von den abstoßend Verstümmelten fassten den Mut, sich wieder den Blicken anderer Leute auszusetzen. Deren Ekel zu ertragen. Das war schon viel. Der eine oder andere fand einen Weg, um ohne Arme auszukommen. Oder er lernte wieder gehen. Dachdecker wurde keiner. Zahntechniker auch nicht. Das Höchste, was wir für sie erreichen konnten, war, sie als etwas bessere Krüppel nach Hause zu schicken. Wo sie dann feststellen mussten, dass sie zwar Helden waren, aber von der lästigen Sorte. 1917 war man nichts Besonderes mehr, wenn einem ein Körperteil fehlte. Ein Paar Beinstümpfe reichte nicht mehr aus, um hinter einem leeren Hut das Mitleid der Passanten zu erregen. Und der Sitzplatz in der Straßenbahn, auf den man mit der Krüppelkarte Anspruch hatte, war meistens schon durch einen anderen Kriegsversehrten belegt.
Versehrt. So ein schönes Wort. Klingt zehnmal besser als invalid , wo man kein Meisterlateiner sein muss, um untüchtig , unfähig , unwert herauszuhören. Versehrt , das klingt schon fast erstrebenswert. Sehr verehrte Kriegsversehrte.
Otto nannte sie Krüppel. Weil er das Wort auch für sich selber verwendete, nahm ihm das niemand übel. Überhaupt hätte seine Sprache besser in den Schützengraben als in ein Krankenhaus gepasst. «Mir bläst auch keiner Zucker in den Arsch», sagte er. Ich brauchte ein Weilchen, um zu kapieren, dass das seine Methode war, mit unangenehmen Dingen fertig zu werden. Je näher ihm etwas ging, desto gröber sein Umgangston. Als ihn jemand fragte, wie das denn so wäre, mit nur noch einer Hand, antwortete Otto: «Etwas fehlt mir. Ich kann mir keine Zigarette mehr anzünden, während ich mir einen runterhole.» Und kaute auf seinem Schnurrbart herum.
Ich ließ ihn machen, und er machte seine Sache gut. Meine Aufgabe, so wie ich sie sah, bestand darin, ihm den Rücken freizuhalten, dafür zu sorgen, dass niemandem auffiel, wie er sich an allen Vorschriften vorbeimogelte. Wenn in der Zeit eine höhere Stelle jedes Papier überprüft hätte, das ich unterschrieb, ich wäre vor Kriegsgericht gelandet. Zum Glück interessierte sich niemand genügend für uns.
Für unsere Patienten war die ewige Langeweile fast noch schwerer zu ertragen als ihre Behinderung. Wer nirgends hingehen kann, weil er schon auf fremde Hilfe angewiesen ist, wenn er nur pinkeln oder einen Löffel Suppe essen will, für den scheint die Uhr stillzustehen. Wer auf eine Prothese wartet, die nicht kommt, obwohl sie schon ewig hätte da sein müssen, für den sind die Tage lang. Man hätte Fachleute gebraucht, um mit ihnen Übungen zu machen, um ihnen beizubringen, wie man mit einem so radikal veränderten Körper umgeht, aber im Kriegsministerium hatte man andere Prioritäten. Störungsfrei aufbewahren sollten wir die Leute, mehr wurde nicht erwartet. Es war Krieg, und man brauchte jeden verfügbaren Mann. Um sich totschlagen zu lassen oder andere totzuschlagen. Für uns blieb nicht genügend Personal übrig.
Ich habe dann in der Aula des Schulhauses Unterhaltungsnachmittage veranstaltet. Habe dort meine ersten Bühnenprogramme gemacht. Ohne Bühne und auch ohne richtiges Programm. Wer nicht gehen konnte, den trugen wir hin. Es war jeder zum Mitmachen aufgefordert, und wenn sich keiner mehr fand, der ein Lied singen oder ein Instrument spielen konnte, habe ich selber Gedichte vorgetragen, so rampensäuisch, wie ich schon in der Penne gewesen war. Nicht die Heldengedichte mit Wir lieben vereint, wir hassen vereint , dafür hätten sie mich ausgepfiffen. Albernen Kram, den ich irgendwo aufgeschnappt und den mein Textgedächtnis gespeichert hatte. Das ist der Lehrling Jacques Menasse, der Jüngling von der Portokasse . Solche Sachen. Otto, der alles auftreiben konnte, besorgte mir Das lustige Salzer-Buch , und ich rezitierte mit Emphase die darin versammelten Albernheiten. Erst kamen die Blusen und Kleider und dann die Jupons voller Plis und dann die Dessous und so weiter …
Egal. Ich hab den Leuten die Zeit vertrieben und ganz nebenher für einen Beruf geübt, von dem ich damals noch nicht einmal träumte.
Ich wollte ihnen etwas geben, aber sie
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