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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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der ersten Gelegenheit schob man mich auf einen anderen Posten ab. «Da können Sie nicht viel Unheil anrichten», sagte man mir.
    Der Ort, an dem ich nach Meinung meiner Vorgesetzten kein Unheil anrichten konnte, war typisch für das preußische Heer und seine Bürokratie. Eine jener Einrichtungen, die man in bester Absicht gründet, und auf die man dann so stolz ist, dass man vor lauter Selbstlob vergisst, sie auch mit den notwendigen Mitteln auszustatten. Als der Grabenkrieg losging und die Anzahl der amputierten Soldaten immer mehr anstieg, hatte man jedem Reservelazarett eine sogenannte Wiederherstellungsstation angegliedert. Offiziell hieß das so. Für die Leute war es schlicht das Krüppelheim.
    Ich sollte dort der Chef sein, nicht formell, aber in der Praxis. Der eigentliche Amtsinhaber, ein Major aus München, war schwerer Alkoholiker. Um drei Ecken herum mit den Wittelsbachern verwandt und konnte deshalb nicht entlassen werden. Seine Arbeit sollte ich jetzt machen. Als knapp Zwanzigjähriger. Mit vier Semestern Medizin. Weil man im Lazarett auf meine Dienste am leichtesten verzichten konnte.
    Ich machte Einwände. Erklärte, dass ich mich der Aufgabe in keiner Weise gewachsen fühle. Man lächelte beruhigend und sagte:«Machen Sie sich keine Sorgen, Gerson. Den Leuten dort ist so oder so nicht zu helfen.»
    So bekam ich meine erste Hauptrolle. Wenn auch nur im Schmierentheater. Bei einer Alibidienststelle, die weder die Mittel noch das Personal besaß, ihre Aufgabe tatsächlich zu erfüllen. Was niemanden zu interessieren schien. Man hatte eine Dienstabteilung eingerichtet, um sagen zu können, dass es sie gab. Wiederherstellungsstation. Klingt besser als Sammelstelle für defektes Menschenmaterial. Obwohl das zutreffender gewesen wäre.
    Wenn es an einem Schwerverletzten nichts mehr zu operieren gab, er aber auch noch nicht so weit hergestellt war, dass man ihn hätte nach Hause schicken können, wenn einer keine Nase mehr hatte und jedes Mal einen Schreikrampf kriegte, wenn er in den Spiegel sah, wenn seine Beine nur noch Stümpfe waren, und es gab keine Prothesen, mit denen er das Gehen wieder hätte lernen können, dann schickte man ihn zu uns. Alle Arten von Dreiviertel- oder Zweidrittelmenschen. Nur die Blinden landeten woanders; für die gab es eigene Einrichtungen. Sonst waren wir der Mülleimer für den Abfall aus der großen Wurstmaschine. Von uns wurde erwartet, dass wir diese unappetitlichen Menschenreste wenn schon nicht aus der Welt, so doch aus den Augen, aus dem Sinn schafften. Wenn man unsere Aufgabe auch sehr viel eleganter formulierte.
    Wir sollten, das war die Theorie, aus hilflosen Krüppeln wieder nützliche Mitglieder der Gesellschaft machen. Aus Leuten ohne Glieder. Wobei mit nützlich gemeint war: Menschen, die dem Staat nicht auf der Tasche lagen. Die für sich selber sorgen konnten.
    Wie das geschehen sollte, sagte mir niemand. Die einzige Unterlage, die ich vorfand, war eine dünne Broschüre, von irgendeinem unabkömmlichen Verwaltungsheini verfasst. Darin war alphabetisch und mit preußischer Präzision aufgelistet, mit welcher Verwundung man für welchen Beruf noch in Frage oder nicht mehr in Frage kam. Nach dem Motto Das schönste Schlachtfeld ist der Schreibtisch standen da so weise Erkenntnisse, wie dass man ohne Beine nicht Dachdecker werden sollte, dass man aber mit derselben Behinderung durchaus noch als Zahntechniker geeignet war. Vorausgesetzt,beide Hände waren intakt. Portier konnte man, wenn man der Broschüre glaubte, immer werden. Auch noch mit halbem Gesicht oder, wie das im Bürokratendeutsch hieß: Beim Fehlen des Kieferapparates . Wenn das wirklich so gewesen wäre, in Deutschland hätte jede Hundehütte einen eigenen Portier gehabt.
    Wir waren in einem Schulhaus einquartiert, die Klassenzimmer zu Schlafsälen umfunktioniert. Das Essen kam aus dem Gasthaus nebenan, wo sich auch mein nomineller Vorgesetzter einquartiert hatte. Am Morgen war er noch betrunken und am Nachmittag schon wieder.
    «Machen Sie nur, junger Mann», sagte er, wenn ich ihn etwas fragen wollte. «Aber stören Sie mich nicht.»
    Machen Sie nur. Fast hundertfünfzig verstümmelte Menschen. Vielleicht hatte er deswegen das Saufen angefangen. Eine Situation, in der man sich ganz schnell seine innere Mauer aufbauen musste. Sonst wäre es nicht auszuhalten gewesen.
    Nicht auszuhalten für den Arztanwärter im Unteroffiziersrang Kurt Gerson. Es gab Leute, die schafften das. Ohne großes

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