Gerron - Lewinsky, C: Gerron
verlegen stand er da. Verdrehte den Oberkörper und rang die ganze Zeit die Hände. Ein Dr. Rosenblum bei einer hoffnungslosen Diagnose. Wollte aber gleichzeitig furchtbar überlegen tun, den Spießern im Publikum mal so richtig zeigen, was eine Harke ist. Nur dass da gar keine Spießer saßen. Nicht im Küka.
«Man kann gar nicht so schnell gähnen, wie er interessant sein will.» Das hat Otto mal über einen Schauspieler gesagt, der im Atelier das Genie markierte, statt einfach sauber seine Rolle zu spielen. Der junge Mann auf dem Nudelbrett wollte der Welt beweisen, wie modern er war. Rezitierte Gedichte, die nichts bedeuteten. So dadaistisches Zeug, wie es die Resi liebte, seit sie mit dem Hugo Ball liiert gewesen war. Trompetete mit seinem Fistelorgan Sachen wie «Schampa wulla wussa!» Ein rebellischer Pennäler, der seine Lehrer ärgern will. Hoffte, dass sich das Publikum über ihn empören würde, um es dann verachten zu können.
Es empörte sich aber keiner. Man machte sich nicht mal die Mühe, ihn auszupfeifen. Keine Zwischenrufe. Die Leute fingen einfach an, sich zu unterhalten. Das muss ihn völlig aus der Bahn geworfen haben. Er setzte zu einem nächsten Gedicht an, wieder soeine Dada-Sprechübung, für die ihm die Stimme fehlte, und wusste nach den ersten Worten nicht mehr weiter. Hing wie eine Glocke. Kam auch nicht auf den Gedanken zu improvisieren, was bei diesem Text keiner gemerkt hätte. Rang in seiner Verzweiflung nur immer heftiger die Hände. Als wolle er den richtigen Text mit Gewalt aus sich herausmelken.
Und dann lief ihm ein gelbes Bächlein aus dem Hosenbein. Ich glaube nicht, dass außer mir jemand die kleine Pfütze neben seinem Schuh bemerkt hat. Und wenn, haben sie sie für Bier gehalten. Es war aber kein Bier.
Er ist mit ganz kleinen Schrittchen bis zur Rampe vorgegangen, das war im Küka kein weiter Weg, und dann weiter ins Leere. Ist von der Bühne gefallen, was ihm den einzigen Applaus seines Auftritts eintrug. Die erste Reihe hat ihn aufgefangen, und die Resi hat ihn getröstet. Hat ihm sein Bier hingestellt und das Päckchen mit den Markstücken daneben gelegt.
Der Junge ist abgestunken, wie man nur abstinken kann. Aber er hatte den Mut gehabt, es zu probieren. Wenn er das konnte, warum nicht ich?
Ich bin noch am selben Abend zur Resi gegangen und habe sie gebeten, mich am nächsten Montag aufs Programm zu setzen. Sie hat genickt, als ob sie das schon lang erwartet hätte, und gefragt: «Was willst du denn rezitieren?»
Ich hatte keine Ahnung.
Jetzt hatte ich einen Auftritt, er würde sogar in der Zeitung angekündigt werden, aber meiner Rampengeilheit fehlte das Objekt. Ich hatte kein Repertoire. Mit dem Jüngling von der Portokasse konnte ich nicht im Künstler-Café auftreten.
Ich bin nie ein großer Leser gewesen. Leider. Geschichten habe ich mir immer lieber erzählen oder auf der Bühne vorführen lassen. Olga ist da anders. Kann in einem Buch richtiggehend versinken. Stundenlang. An dem Abend, als Max Schmeling Schwergewichtsmeister wurde, haben wir beinahe den Kampf verpasst, weil sie mitLesen nicht fertig wurde. «Nur noch fünf Minuten», sagte sie. Und immer noch mal fünf. Und ich stand wie ein Idiot unter der Tür in meinem Frack.
Natürlich ist es total lächerlich, sich in feine Schale zu werfen, nur um zu einem Boxkampf zu gehen. Aber das war damals so. Der Abend im Sportpalast war so wichtig wie eine Reinhardt-Premiere. Wichtiger. Die Damen ließen die ganz dicken Klunker aus den Banktresoren holen, und wer zeigen wollte, dass er es zu etwas gebracht hatte, leistete sich einen Platz direkt am Ring. Wo einem mit etwas Glück das Blut auf die Hemdbrust spritzte.
Hinterher denkt man: Vor einem Volk, dass sich für organisierte Prügeleien so sehr begeistern kann, sollte man sich in acht nehmen. Hinterher denkt man vieles.
Wenn ich Olga ihr Buch hätte zu Ende lesen lassen und an dem Abend zu Hause geblieben wäre, dann wäre ich dem kleinen Korbinian nicht wieder begegnet. Er hätte mich vielleicht vergessen und mir nicht fünfzehn Jahre später so stolz demonstriert …
Daran will ich nicht denken.
Lieber an meinen allerersten Auftritt.
Für den ich keinen Text hatte. Bei Resi hab ich natürlich behauptet, ich müsse nur aus meinem Überfluss auswählen. Vielleicht hat sie deshalb zu mir gesagt, Größenwahn sei die halbe Miete.
Ich habe mich für Wedekind entschieden. Weil ich seine Texte für furchtbar modern und kontrovers hielt. Ich hatte
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