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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Arbeiterräten landete oder beim Freikorps Lützow, das war so zufällig wie Rot oder Schwarz beim Roulette. Spartakus, Handlanger der Entente oder Bolschewismus, der Mörder Deutschlands – man setzte seine Spielmarken auf gut Glück. Jeder auf der Suchenach einem System, einem Rezept, mit dem sich die Welt neu organisieren ließ. Das es natürlich nicht gab. Deshalb waren die Leute so begeistert, als ihnen die Nazis das ungewohnte Selber-Denken wieder abnahmen und durch den guten alten Kommandoton ersetzten.
    Mit ein paar Kommilitonen, die alle auch Arztanwärter oder Sanitäter gewesen waren, gründete ich ein Komitee, das sich für eine bessere Betreuung der Kriegsverwundeten und Kriegskrüppel einsetzen sollte. Wir gaben uns – da wirkte das Gymnasium noch nach – den schönen Namen Aktionsgruppe Paracelsus. Hielten Versammlungen ab. Schrieben Petitionen. Diskutierten nächtelang über die Formulierung von Aufrufen.
    Und erreichten nichts. Weniger als nichts.
    Die neuen Leute in den alten Büros waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie interessierten sich nicht für die Helden von gestern. Der Krieg war vorbei. Warum sollte man sich um seinen Abfall kümmern?
    Unser Komitee hat sich nie aufgelöst. Es schlief ein. Bei der letzten Sitzung waren wir noch zu dritt.
    Seit jener Zeit habe ich mich nicht mehr für Politik interessiert.
    Zu Friedrich Wilhelm, wie wir die Universität nannten, bin ich nie wieder hingegangen.
     
    Meine Eltern haben das lange Zeit nicht gemerkt. Sie hatten andere Sorgen. Das Geld war knapp geworden. Nicht dass wir richtig arm gewesen wären, das denn doch nicht. Dass man Kartoffelschalen auch ohne Kartoffeln essen kann, lernte ich erst später. Aber wir waren auch nicht mehr so großbürgerlich gut situiert wie vor dem Krieg. Gerson & Cie. steckte in Schwierigkeiten. Es fehlte an Kapital, nicht zuletzt weil Papa, der Vernunftprediger, Schulden gemacht hatte, um Kriegsanleihe zu zeichnen.
    Natürlich, die gesellschaftliche Fassade wurde gewahrt. Das schaffte Mama sogar noch in Amsterdam, als wir zu viert in zwei Zimmern hausten. Aber gespart musste werden. Wir konnten unskeine Köchin mehr leisten, nur gerade noch eine Zugehfrau. Mama, die der eigenen Küche bisher immer nur Staatsbesuche abgestattet hatte, gab sich alle Mühe, war aber für das Fach nicht begabter als ich für die Chirurgie. Wir lobten trotzdem, was sie uns auftischte, versicherten heuchlerisch, dass wir uns etwas Besseres nicht vorstellen könnten. Großpapa hat mir einmal erklärt, die Strafe für Lügen bestünde darin, dass sie irgendwann wahr würden. Er hatte auch damit recht. Wenn ich heute an Mamas lederzähe Sonntagsbraten denke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
    Je schlechter es ihm finanziell ging, desto konservativer wurde Papa. Sein Revoluzzertum hielt der wirklichen Revolution nicht stand. Seit Wilhelm sich in Doorn im Holzhacken übte, plädierte er für die Wiedereinführung der Monarchie. Natürlich nicht öffentlich. Zwar waren die meisten seiner Kollegen vom Konfektionärsstammtisch aus dem gleichen konservativen Holz geschnitzt, aber es gab auch andere, und so, wie die Dinge standen, durfte man es sich mit keinem der viel zu wenigen Kunden verderben.
    Papas neue Ansichten deckten sich sehr exakt mit denen unseres Portiers Heitzendorff. Der war damals noch nicht bei den Nazis, sondern bei der Deutschnationalen Volkspartei. Deren Anhänger auch den guten alten Kaiser Wilhelm wiederhaben wollten. Bevor sie dann, ein paar Jahre später, dem guten neuen Kaiser Adolf zujubelten. Ich kann mir lange Treppenhausgespräche vorstellen, in denen die beiden aufrechten deutschen Männer gemeinsam das Vaterland retteten. Als PG hat sich der Effeff dann geweigert, für meine Eltern weiterhin Kohlen aus dem Keller zu holen. Ein Arier könne kein Judensklave sein. Worauf ihm Papa, ohne damit eine Pointe zu beabsichtigen, indigniert antwortete: «Sie sind aber nicht Arier, Herr Heitzendorff. Sie sind Portier.»
    Ich fühlte mich an der Klopstockstraße nicht mehr wohl. Nicht weil ich jeden Tag so hungrig vom Tisch aufstand, wie ich mich hingesetzt hatte. Mit dem Hunger als ständigem Begleiter hatte ich mich abgefunden. Es war mein schlechtes Gewissen, das mich reizbar machte. Mama konnte nicht verstehen, warum ich so ablehnend reagierte, wenn sie mich mit Nettigkeiten betüddelte. Ichempfand mich als Schmarotzer. Die Zeiten waren schwierig, und ich lag meinen Eltern auf der Tasche.
    Ich hätte ihnen

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