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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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untenganz schwarz. Wir wärmen uns Wasser darin auf. Wenn man die richtigen Gräser findet, kann man sich einreden, man trinke Tee.
    Zwei Löffel. Zwei Gabeln. Zwei Messer. Eines davon ist größenwahnsinnig. Bestenfalls Alpaka, versucht aber, vornehmes Silber zu imitieren. Samt verschnörkeltem Monogramm. In den Griff eingeprägt die Buchstaben B. T . Wir haben Stunden damit zugebracht, uns auszudenken, wofür die Initialen wohl stehen könnten. Die Abende sind lang hier, seit die Ausgangssperre um acht beginnt. Baron Trenck haben wir gesagt, oder Bertolt Trecht. Die richtige Lösung fällt mir erst jetzt ein. B. T. Bald tot.
    R. U. Rückkehr unerwünscht.
    Zwei Fotos. Meine Eltern und Olgas Eltern. Mehr ist von ihnen nicht übrig geblieben. Wir haben uns die Bilder lang nicht angesehen.
    Ein flacher Stein mit einer Maserung, die aussieht wie ein Gesicht.
    Meine Pillen gegen Bluthochdruck. Ich brauche sie nicht mehr. Die salzarme Diät im Lager hat Wunder gewirkt.
    Mein Zigarrenetui. Leer, natürlich, aber man kann die Zigarren noch riechen.
    Dies und das.
    An der Wand ein Regalbrett mit zwei leeren Konservendosen. Die eine, durchlöchert, ist unser Kochherd. In der anderen steht eine Rose. Schon lang vertrocknet, aber es ist eine richtige Blume. Wie Olga dazu gekommen ist, das ist eine eigene Geschichte. Eine vertrocknete Rose und ein vertrocknetes Stück Brot. Auch mit einer Geschichte.
    Ein einziges Bild. Es hängt schräg, weil wir die Nägel verwenden mussten, die schon in der Wand waren. Die Zeichnung eines Tellers mit zwei Spiegeleiern.
    Das ist es, was wir haben. Lohnt es sich, dafür am Leben zu bleiben?
     
    Wenn wir Kinder hätten, vielleicht. Aber wir haben keine Kinder. Dafür hat der Granatsplitter gesorgt. Ich habe darunter gelitten, aber vielleicht war es ein Glück.
    Für das Kind war es ein Glück.
    Es wäre ein Sohn gewesen, da bin ich mir ganz sicher. Wenn ich davon geträumt habe – und wann habe ich nicht davon geträumt? –, war es immer ein Sohn. Er hätte in seiner Wiege gelegen und gestrampelt. Dicke Beinchen hätte er gehabt, und die Leute hätten gelacht und gesagt: «Er kommt nach seinem Vater.»
    Ich hätte ihm Lieder vorgesungen, alle Lieder, die ich kenne, auch neue hätte ich für ihn erfunden, und er hätte nicht geweint. Und wenn doch, hätte ich Grimassen für ihn geschnitten. Ich kann gut Grimassen schneiden. Auf meinen Knien hätte ich ihn geschaukelt, so wie es Großpapa mit mir getan hat. Wir fahren mit der Eisenbahn, Tschu-tschu-Eisenbahn …
    Nein, nicht dieses Lied. Ich hätte mir ein anderes für ihn ausgedacht. Ganz viele hätte ich mir ausgedacht.
    Er hätte laufen gelernt und reden, nicht früher als andere, das wäre nicht nötig gewesen. Ein ganz gewöhnliches glückliches Kind wäre er geworden, und ich hätte ihn nicht mehr verwöhnt, als andere Väter es auch tun. Ein ganz kleines bisschen mehr vielleicht, aber das hätte ihm nicht geschadet. Nichts hätte ihm geschadet.
    Manchmal wäre er krank gewesen, alle Kinder sind manchmal krank. Dann hätte sich Olga an sein Bett gesetzt und ihn gestreichelt, und er hätte wieder gelächelt. Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Die Leute hätten gesagt: «Sie ist eine wunderbare Mutter», und sie hätten recht gehabt. Olga wäre die beste Mutter gewesen, die allerbeste.
    Er wäre in die Schule gekommen, und die Lehrer wären nett zu ihm gewesen. Er hätte lesen gelernt und schreiben. An meinem Geburtstag wäre eine Zeichnung auf dem Tisch gelegen, darauf hätte gestanden Für Papa . Mit krakeligen Buchstaben.
    Für Papa.
    Ich wäre gerührt gewesen, zu Tränen gerührt, und er hätte gefragt:«Bist du traurig, Papa?» Und ich hätte gesagt: «Es ist mir etwas ins Auge geflogen.» Und hätte ihn ganz fest an mich gedrückt.
    Otto Burschatz wäre sein Patenonkel gewesen und hätte ihm lauter wunderbare Geschenke mitgebracht. Einen echten Zahn von einem Tiger und eine Eisenbahn, die nicht nur im Kreis herumfährt.
    Nein, keine Eisenbahn. Einen Drachen vielleicht, ja, einen Drachen, und der wäre nicht in einem Baum hängen geblieben wie damals der meine.
    1925 wäre er zur Welt gekommen, das habe ich mir ausgerechnet. Acht Jahre wäre er gewesen, als wir Deutschland verlassen mussten.
    Er hätte nicht gemerkt, dass es eine Flucht war. Ferien, hätte er gedacht und wäre stolz gewesen, dass er durfte und die andern nicht. In Wien hätte er das Riesenrad entdeckt und in Paris das Karussell im Jardin de Luxembourg, das

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