Gerron - Lewinsky, C: Gerron
eingesteckt. In Theresienstadt ist Besteck wertvoll. Erst dann bin ich hinter ihm her gerannt.
Sie war aus dem Fenster gestiegen. Vom Dachboden in der Dresdener Kaserne. Wo die alten Frauen auf ihren Strohsäcken liegen. Wo auch Olga gewohnt hat, die ersten Tage in Theresienstadt. Sie hatte ein Fenster geöffnet, eine Luke eigentlich nur, und war hinausgeklettert.
Einfach hinausgeklettert.
Als ich angerannt kam, stand sie auf einem Sims, viel zu schmal für einen Fuß. Tastete sich der Mauer entlang, zehn Meter über dem Boden. Das Gesicht zur Wand, an der sie sich mit einer Hand abstützte. Der andere Arm vor ihrem Körper. Angewinkelt, als ob sie sich verletzt hätte.
Auf der Straße ein Menschenauflauf. Wo man so eng zusammengepfercht lebt, kommt schnell eine Menge Leute zusammen.
«Sie wollte springen», erklärte jemand mit dem Stolz des Augenzeugen, der rechtzeitig vor Ort gewesen ist. «Aber dann hatte sie nicht den Mut dazu.»
Dass sich jemand umbringt, kommt in Theresienstadt jede Woche vor. Auch dass jemand den Verstand verliert. Grund dafür haben wir alle.
Aber Olga …
Hatte es etwas mit dem Hochzeitstag zu tun? Konnte sie nicht ertragen, dass unsere Tradition zu Ende sein sollte? War das schlimmer für sie als alles andere? Man kann in einen Menschen nicht hineinschauen. Auch nicht, wenn man zwanzig Jahre mit ihm verheiratet ist.
Ich habe nicht gerufen. Meine Stimme hätte sie erschrecken können. Das prekäre Gleichgewicht stören, das sie wiedergefunden zuhaben schien. Das sie davon abgehalten hatte, sich in die Tiefe zu stürzen. Nur jetzt nicht ablenken, nicht jetzt, wo sie sich der Öffnung in der Mauer näherte. Mit winzigen seitlichen Bewegungen.
Ganz leise musste ich mit ihr sprechen. Beruhigend. Mich ans Fenster stellen und sie mit meiner vertrauten Stimme Schritt für Schritt zu mir heranlocken. Ihr die Hand hinstrecken und sie mit sanfter Gewalt ins Leben zurückziehen.
Hinterher hat mich Olga dafür ausgelacht. Hat mir den Titel des amerikanischen Films genannt, in dem wir genau diese Szene gesehen haben.
Die Leute wollten mich nicht durchlassen. Mit den Ellbogen musste ich mir den Weg zur Haustür bahnen. Beleidigte Reaktionen, als ob ich mich in der Schlange vor einer Theaterkasse hätte vordrängeln wollen. «Wären Sie halt früher gekommen, Herr, dann hätten sie auch einen besseren Platz gekriegt.»
Endlich das Treppenhaus.
Ich war erst zwei Stockwerke hochgekeucht, da kam sie mir lächelnd entgegen.
Lächelnd.
Streckte mir das Vogelnest entgegen, das sie aus der Dachrinne gefischt hatte. «Meinst du, dass Taubeneier auch schmecken?», fragte sie.
Sogar ein ganz kleines Stückchen Butter hatte sie mitgebracht – nicht Margarine, Butter! –, eingewickelt in ein Stück dänische Zeitung. Unser Ofen ist eine durchlöcherte Konservenbüchse, die man mit Holzschnipseln füttert, der Blechteller wurde nicht richtig heiß, und Salz hatten wir auch keines. Aber es waren die besten Spiegeleier, die jemals jemand gegessen hat.
Zwanzig Jahre.
Als wir damals beschlossen zu heiraten – nein, wir mussten es nicht beschließen, es war einfach klar –, da waren meine Eltern überhaupt nicht damit einverstanden, dass wir es in Hamburg tun wollten. Ganz ohne Brimborium. Die Liste der Leute, die wir ihrerMeinung nach mindestens – aber mindestens! – hätten einladen müssen, umfasste drei Seiten. Es standen fast nur Konfektionäre drauf.
Olgas Eltern war alles recht, was ihre Tochter glücklich machte. So liebe Menschen! Schön, dass sie rechtzeitig haben sterben dürfen. Eines natürlichen Todes , wie man das wohl nennt. Wenn ich mir vorstelle, auch sie wären …
Nicht daran denken.
Auf dem Standesamt ging es nicht feierlich zu, sondern komisch. Wie bei einer wichtigen Premiere, wo einen vor lauter Spannung schon der kleinste Versprecher aus dem Konzept bringt. Otto Burschatz hatte sich für seinen Auftritt als Trauzeuge einen Cutaway besorgt. Selbstverständlich pflegte er auch zur Kostümabteilung die besten Kontakte. Weil er darin würdiger aussah als alle andern, hielt ihn der Beamte für den Bräutigam. Worüber wir so heftig lachen mussten, dass der arme Bürokrat seinen ganzen Auftritt verstotterte.
Der andere Trauzeuge war Olgas Chef, mein Studienkollege Thalmann. Als ich Otto und ihn miteinander bekannt machte, und sie einander gegenüber standen, der eine mit nur einer Hand, der andere mit nur einem Arm, da meinte Otto: «Scheint ein Treffen für Männer mit
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