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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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aus dem Rilke-Gedicht. Aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Er hätte nicht gewollt, dass ich mit ihm mitfahre, dafür wäre er schon zu groß gewesen. Ganz allein wäre er auf das hölzerne Pferd geklettert.
    In Holland hätte er ganz schnell die Sprache gelernt, ein Fahrrad hätte er gehabt, und im Winter wäre er mit roten Backen auf einer Gracht Schlittschuh gelaufen. Es hätte ihm gefallen in Amsterdam.
    Beim Einmarsch der deutschen Truppen wäre er fünfzehn gewesen und hätte verstanden, was passiert. Aber er hätte keine Angst gehabt, auch nicht mit dem gelben Stern auf der Brust. Mein Sohn hätte keine Angst gehabt.
    Dann hätten sie ihn nach Westerbork geschickt und von Westerbork hierher nach Theresienstadt, und er hätte mit den andern gehungert und wäre mit den andern krank geworden. Oder er wäre nicht krank geworden, aber eines Tages hätte er ganz in Gedanken einen SS-Mann nicht gegrüßt, sie hätten ihn zu zehn Stockschlägen verurteilt und, weil er nicht weinen oder schreien wollte, zu noch einmal fünfundzwanzig, und das hätte er nicht überlebt. Oder er hätte es überlebt, aber sie hätten ihn für den nächsten Transport eingeteilt, und er wäre nach Auschwitz gekommen, und dort …
    Es ist gut, dass ich keine Kinder haben kann.
    Ein Glück ist es.
     
    Nein. Nein. Nein. Nein. Zum Wahnsinn führt der Weg.
    Es ist nicht meine Kinderlosigkeit, die mich ausmacht. Nicht diese zufällige Kriegsverletzung. Ich bin Künstler. Schauspieler. Ich habe Erfolge gehabt. Schöne Erfolge. Die gehören mit auf die Rechnung, nicht nur die Niederlagen. Warum fällt es mir so schwer, mich darauf zu konzentrieren? Ich muss das doch können. Ich habe das doch geübt. Wenn mir auf der Bühne ein Mensch gegenüber steht, gerade noch haben wir zusammen in der Kantine gesessen und er hat mir schweinische Witze erzählt, er riecht nach dem Bier, das wir getrunken haben, und an seinem Kinn hat er mit rosaroter Schminke einen Pickel übermalt, dann muss ich mich auf darauf konzentrieren können: Das ist der König. Muss seine Majestät spüren, auch wenn ich ihn in Unterhosen kenne. Auf einem Schlachtfeld muss ich sein können, wenn das Stück es verlangt, auf der Heide oder in einem Wald, und es darf mich nicht stören, dass da keine Bäume sind, sondern nur bemalte Pappe. Wenn der Jessner mal wieder seine Treppe hinbaut, muss ich den Palast sehen, den er damit meint.
    Ich muss das doch können, verdammt noch mal.
    Ohne die Augen zu schließen. Ohne einen einzigen Atemzug lang zu vergessen, wo ich bin und um was es geht. Trotzdem woanders sein. In einer andern Zeit. Meine Erinnerungen kann Rahm nicht einsperren. Ich weiß noch ganz genau, wie es war.
    Ich weiß es doch noch.
    Ich muss das doch können.
    Ich sitze bei Schwanneke, wo wir fast jeden Abend landen, und dieser Mann spricht mich an.
    Sieht nicht aus wie ein Theaterdirektor. Wie ein junger Arzt, frisch approbiert. Der sich seiner Sache noch nicht ganz sicher ist und sich deshalb an einer Pfeife festhält. Er ist tatsächlich mal Medizinstudent gewesen, ein Semester lang. «Das muss doch eine Bedeutung haben», meint er «Eine Produktion mit lauter abgebrochenen Medizinern. Sie ja auch, wie ich höre, und der Brecht ohnehin. Und mit dem verstehen Sie sich doch blendend.»
    Naja.
    Ich hatte bei Brecht den Mech gespielt, im Baal am Deutschen Theater. «Ich bin eigentlich zu dick für Lyrik», hatte ich in der ersten Szene zu sagen, und das war ein Lacher gewesen. Aber sonst? Ein wildes Pfeifkonzert. Der Kerr soll das angezettelt haben. Das mag so gewesen sein oder auch nicht. Wie auch immer: Nach der ersten Matinee war das Stück schon wieder abgesetzt. Wenn man den Brecht fragte, waren alle anderen daran schuld, nur nicht er selber. Dabei hatte er Regie geführt. Was er dann bei der Dreigroschenoper auch ständig getan hat, obwohl er dafür nicht engagiert war. Aber was sollte man machen? Der Aufricht hatte nun mal den Narren an ihm gefressen.
    Ernst Josef Aufricht. Wir nannten ihn: «Herr Direktor». Nicht aus Unterwürfigkeit, sondern weil die ganze Produktion etwas von einer Improvisation hatte. So wie früher mit Kalle. Wo man sich alle paar Sätze mit Titel und Funktion anreden muss, um nicht zu vergessen, wer gerade was spielt. Aufricht stellte den Chef dar, und Brecht mimte den Autor. Obwohl er das Stück gar nicht geschrieben hatte. Nicht allein.
    Es war ein unmögliches Projekt, und wir haben alle nicht wirklich daran geglaubt. Außer dem

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