Gesammelte Werke 1
Tatsache, dass er immerzu mit etwas anderem beschäftigt war, als wollte er keine Zeit auf seine Mitmenschen verschwenden und sei zutiefst von seiner eigenen Welt in Anspruch genommen. Diese Welt schien nur aus ihm selbst und allem Lebendigen ringsum zu bestehen - mit Ausnahme von
Menschen. Dieses Phänomen sei bei kleinen Kindern gar nicht so selten, sagte Fedossejew, nur sei Abalkin darin besonders talentiert gewesen . Etwas anderes aber war seiner Meinung nach viel erstaunlicher: Bei all seiner Verschlossenheit war Abalkin immer mit großer Begeisterung bei Wettbewerben oder im Schultheater aufgetreten. Allerdings hatte er es kategorisch abgelehnt, in Stücken mitzuspielen, und trat nur solo auf. Meist trug er etwas vor, sang voller Hingabe ein Lied - mit einem für ihn ganz ungewöhnlichen Leuchten in den Augen. Auf der Bühne blühte er geradezu auf. Kam er aber später zurück in den Saal, wurde er sofort wieder er selbst: ausweichend, schweigsam, unzugänglich. Und das nicht nur dem Lehrer, sondern auch allen Kindern gegenüber. Es gelang allerdings nie, die Ursache dafür herauszufinden. Man konnte nur vermuten, dass seine Begabung im Umgang mit der belebten Natur alle anderen Seelenregungen derart überwog, dass ihn die Kinder in seiner Umgebung, wie überhaupt alle Menschen, einfach nicht interessierten. In Wirklichkeit war alles sicher wesentlich komplizierter - seine Verschlossenheit und das Versunkensein in der eigenen Welt waren wohl die Folge Tausender kleiner Ereignisse, die dem Blick des Lehrers verborgen blieben. Der Lehrer erinnerte sich nur an eine Begebenheit: Nach einem Platzregen ging Lew die Wege im Park entlang, sammelte die hervorgekrochenen Regenwürmer auf und warf sie zurück ins Gras. Die anderen Kinder fanden das ulkig und lachten; es waren aber auch solche darunter, die ihn grausam auslachten. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, gesellte sich der Lehrer zu Lew und begann, mit ihm gemeinsam Regenwürmer zu sammeln …
»Aber ich fürchte«, sagte Fedossejew, »dass ich nicht sehr überzeugend war. Er hat mir sicher nicht geglaubt, dass mich das Schicksal der Regenwürmer tatsächlich interessierte. Lew aber besaß noch eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft:
absolute Ehrlichkeit. Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, wo er gelogen hätte. Nicht einmal in dem Alter, wo Kinder oft und ohne jeden Grund lügen - einzig und allein, weil es ihnen Spaß macht. Lew aber log nicht, mehr noch: Er verachtete Lügner. Auch wenn sie nur zum Spaß logen. Vielleicht hat er in seinem Leben einmal voller Entsetzen erkennen müssen, dass Menschen manchmal die Unwahrheit sagen. Aber auch diesen Moment in seinem Leben habe ich nicht mitbekommen. All das wird Ihnen jedoch kaum weiterhelfen. Sie möchten sicher lieber wissen, wie sich bei ihm der künftige Tierpsychologe bemerkbar machte.«
Und Sergej Pawlowitsch fing an zu erzählen.
Das hatte ich mir nun selbst eingebrockt. Also lauschte ich mit dem aufmerksamsten Gesichtsausdruck, warf ab und zu ein »Aha« oder »Ach so?« ein und erlaubte mir einmal sogar den Ausruf: »Ja, ja! Das ist genau, was ich brauche!«
Manchmal verabscheue ich meinen Beruf.
Dann fragte ich: »Freunde hatte er also kaum?«
»Freunde hatte er überhaupt keine«, sagte Sergej Pawlowitsch. »Und ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er die Schule verlassen hat. Die anderen Kinder aus seiner Gruppe haben mir aber erzählt, dass er sich mit ihnen auch nicht trifft. Sie reden nicht gern darüber, aber so viel ich verstanden habe, weicht er Begegnungen einfach aus.«
Plötzlich rief er: »Aber warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Lew? Ich habe hundertzweiundsiebzig Menschen auf das Leben vorbereitet. Warum suchen Sie von all diesen Schülern gerade ihn? Bitte verstehen Sie, ich betrachte ihn nicht als meinen Schüler. Ich kann es nicht. Er ist mein Misserfolg, mein einziger Misserfolg! Seit dem ersten Tag, zehn Jahre lang, habe ich ununterbrochen versucht, Kontakt zu ihm zu finden, eine, wenn auch nur zarte Verbindung zu ihm zu knüpfen. Ich habe über ihn zehnmal mehr nachgedacht als über jeden anderen meiner Schüler. Ich habe alles
versucht, wirklich alles, aber was ich auch unternahm, es wendete sich zum Schlechten.«
»Sergej Pawlowitsch!«, entgegnete ich. »Was sagen Sie denn da? Abalkin ist ein großer Experte, ein Wissenschaftler von Rang, ich bin ihm selbst begegnet …«
»Und wie haben Sie ihn gefunden?«
»Ein bemerkenswerter Bursche und
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