Gesammelte Werke
ganze Frau, die sie nach ihrem zwölften Lebensjahr gewesen sei, aus ihrer Brust, und dann neigte sie sich zur Seite, um Ulrichs Lust sich über die ihre ergießen zu lassen, wie er mochte.
Wäre ihr Gesicht nicht gewesen, Ulrich hätte in diesem Augenblick aufgelacht. Aber dieses Gesicht war unbeschreiblich wie der Wahnsinn und ebenso ansteckend. Er warf den Säbel fort und gab ihr zweimal einen derben Klaps. Sie hatte es anders erwartet, aber die physische Erschütterung wirkte trotzdem. Es kam etwas in Gang, wie manchmal Uhren zu gehen beginnen, wenn man sie roh behandelt, und auch in den gewöhnlichen Ablauf, den die Begebnisse von da an nahmen, blieb ein Ungewöhnliches gemengt, ein Schrei und Röcheln des Gefühls.
Weit zurückliegende Kinderworte und Gebärden mengten sich hinein, und die ablaufenden wenigen Stunden bis zum Morgen waren wie erfüllt von einem dunklen, kindischen und seligen Traumzustand, der Diotima von ihrem Charakter befreite und sie in die Zeit zurückführte, wo man noch nichts überlegt und alles gut ist. Als der Tag durch die Scheiben schien, lag sie auf den Knien, ihre Uniform war über den Boden verstreut, die Haare waren ihr über das Gesicht gefallen und die Wangen voll Speichel. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in diese Stellung gekommen war, und ihre erwachende Vernunft entsetzte sich über ihre entweichende Entrücktheit. Von Ulrich war aber nichts zu sehen.
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Der Grieche
[Früher Entwurf]
Es war beschlossen worden, Clarisse in ein neues Sanatorium zurückzubringen; sie ließ es ohne Widerstand und fast schweigend geschehn. Sie fühlte sich von Ulrich schwer enttäuscht und sah ein, daß sie in eine Krankenanstalt zurückkehren müsse, – «um den Kreislauf noch einmal durchzumachen»; er war so schwer, daß er selbst ihr nicht gleich beim erstenmal gelingen konnte.
Sie richtete sich an dem neuen Aufenthaltsort sicher ein, wie ein Mensch, der in ein Hotel wiederkehrt, wo er ein erfahrener Stammgast ist. Walter blieb vier Tage bei ihr. Er fühlte die Wohltat, daß Ulrich nicht mitgekommen war, und er allein Clarisse beherrschen konnte, gestand sich das aber nicht ein. Die Art, wie er sich gegen Ulrich verhalten hatte, sollte große Höhe haben und er glaubte auch, daß ihm dies gelungen sei; aber jetzt, wo es vorbei war, meldete ihm etwas sehr Unangenehmes, daß er sich während der ganzen Zeit vor Ulrich gefürchtet hatte. Sein Körper wollte eine männliche Genugtuung. Er nahm keine Rücksicht auf Clarisse und redete sich ein, daß sie nicht krank sei, sondern am ehesten sich erholen werde, wenn man sie neben körperlicher Pflege seelisch möglichst wie eine gewöhnliche Frau behandle. Aber er wußte dennoch, daß er sich das nur einrede. Zu seinem Erstaunen fand er weniger Widerstand bei Clarisse, als er gewohnt war. Er litt. Er empfand Ekel vor sich. Er hatte sich in der ersten Nacht eine kleine Verletzung zugezogen, die ihn schmerzte: unter körperlichen Schmerzen und Schauder vor seiner Roheit glaubte er sie und sich zu geißeln. Dann war sein Urlaub zuende. Es fiel ihm nicht ein, seinem Büro zu desertieren. Er mußte seine Seele mit der Uhr in der Hand einpacken.
Clarisse unterzog sich einer Mastkur, welche man ihr verordnet hatte, da man ihre nervöse Überreizung als Folge körperlichen Herabgekommenseins ansah. Sie war abgemagert und struppig wie ein Hund, der sich wochenlang im Freien herumgetrieben hat. Die ungewohnte Ernährung, deren Wirkung sie zu fühlen begann, machte Eindruck auf sie. Sie duldete auch Walter, sanft wie die Kur, die ihr fremde Körper aufnötigte und sie zwang, grobe Stoffe zu verschlingen. Schwermütig nahm sie alles hin, um sich das Zeugnis der Gesundheit vor sich selbst zu erwerben. «Ich lebe nur auf meinen eigenen Kredit,» sagte sie sich «niemand glaubt an mich. Vielleicht ist es nur ein Vorurteil, daß ich lebe?»: es beruhigte sie, während Walters Anwesenheit, sich mit Materie zu füllen und irdischen Ballast einzunehmen, wie sie es nannte.
Aber an dem Tag, wo Walter abreiste, war der Grieche da. Er wohnte im Sanatorium, vielleicht schon länger als Clarisse, aber da war er ihr in den Weg getreten. Er sagte zu einer Dame, als Clarisse vorbeiging: «Ein Mensch, der soviel gereist ist wie ich, vermag überhaupt nicht eine Frau zu lieben.» Es konnte sogar sein, daß er gesagt hatte: «Ein Mensch, der soweit herkommt wie ich ...» Clarisse verstand sogleich, daß es ein ihr geltendes Vorzeichen war, was diesen
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