Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
nachts nicht schlafen können, Wusi wird sinnlos betrunken nach Hause kommen, und Zöllner Peti wird, warum auch immer, andauernd mit der Nase in Glasscherben fallen. Und allen wird das »Wohl des Volkes« am Herzen liegen. Die einen wird man mit Tränengas überschütten, die anderen bis zu den Ohren in die Erde rammen, wiederum andere aus Affen in etwas verwandeln, was durchaus als Mensch gelten kann … Später, wenn das Bibberlein aus der Mode kommt, schenkt man dem Volk ein Superbibberlein, und den abgeschafften Sleg ersetzt man durch einen Supersleg. Alles zum Wohle des Volkes. Amüsiere dich, Land der Dummköpfe, und denke an nichts!
Am Nachbartischchen ließen sich mit Tabletts zwei Männer in Umhängen nieder. Der eine kam mir bekannt vor. Er hatte ein rassiges, hochmütiges Gesicht, und hätte er nicht ein dickes weißes Pflaster auf dem linken Wangenknochen gehabt, hätte ich ihn sicher sofort erkannt – jedenfalls meinte ich das. Der zweite Mann war rotwangig, hatte eine große Glatze und bewegte sich geschäftig. Sie unterhielten sich halblaut, doch gewiss nicht aus Heimlichtuerei, denn von meinem Platz aus konnte ich sie gut verstehen.
»Verstehen Sie mich recht«, sagte der Rotwangige eindringlich, während er hastig sein Schnitzel verzehrte. »Ich bin durchaus nicht gegen Theater und Museen. Aber die bereitgestellten Mittel für das Stadttheater wurden letztes Jahr nicht ausgeschöpft, und in die Museen gehen bloß Touristen …«
»Und Gemälderäuber«, ergänzte der Mann mit dem Pflaster.
»Lassen Sie das, bitte. Wir haben keine Bilder, die es zu rauben lohnte. Gott sei Dank weiß man die ›Sixtinischen Madonnen‹ noch nicht aus Sägespänen synthetisch herzustellen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Verbreitung von Kultur heutzutage auf völlig anderem Wege erfolgen sollte. Die Kultur darf nicht ins Volk gehen, sondern muss aus dem Volk kommen. Volkschöre, Laienzirkel, Massenspiele – das ist es, was unser Publikum braucht.«
»Unser Publikum braucht eine gute Besatzungsarmee«, sagte der Mann mit dem Pflaster.
»Ach, hören Sie auf, Sie denken doch gar nicht so. Die Erfassung in Zirkeln ist auf einem empörend niedrigen Niveau. Boela klagte mir gestern, zu ihren Lesungen komme immer nur ein Mann, und der offenbar mit Heiratsabsichten. Wir müssen das Volk vom Bibberlein abbringen, vom Alkohol, vom Sex. Wir müssen den Geist heben …«
Der Mann mit dem Pflaster unterbrach ihn: »Was wollen Sie eigentlich? Dass ich heute Ihr Projekt gegen diesen Esel, unseren verehrten Bürgermeister, unterstütze? Mir ist alles absolut egal. Aber wenn Sie meine Meinung über den Geist hören wollen: Den gibt es nicht, mein Lieber! Der Geist ist längst tot! Er ist im Bauchspeck erstickt. Und an Ihrer Stelle würde ich nur das in Betracht ziehen, nur das!«
Der Rotwangige schien niedergeschmettert. Eine Weile schwieg er, dann stöhnte er auf: »Mein Gott, womit wir uns hier beschäftigen müssen! Aber hören Sie: Irgendwo fliegen doch Menschen zu den Sternen! Werden Mesonenreaktoren gebaut! Wird eine neue Pädagogik geschaffen! Mein Gott, erst vor Kurzem habe ich begriffen, dass das hier nicht nur Provinz ist, sondern ein Schonrevier! In den Augen der Menschheit sind wir ein Hort der Dummheit, der Unwissenheit und Pornokratie. Stellen Sie sich vor, in unserer Stadt hält sich bereits das zweite Jahr Professor Rubinstein auf. Sozialpsychologe, weltbekannt. Er studiert uns wie Tiere. ›Instinktive Soziologie verfallender ökonomischer Formationen‹ nennt er seine Arbeit. Ihn interessiert der Mensch als Träger von Urinstinkten, und er erzählte mir, wie schwierig es war, in Ländern Material zu sammeln, in denen instinktives Handeln vom System der Pädagogik entstellt und unterdrückt worden ist. Bei uns dagegen schwelgt er in Seligkeit! Seinen Worten zufolge gibt es bei uns außer der instinktiven überhaupt keine Tätigkeit. Ich war beleidigt, schämte mich, aber mein Gott, was konnte ich ihm entgegnen? Sie verstehen. Sie sind klug, mein Freund, kalt, ich weiß, aber ich kann nicht glauben, dass Ihnen das alles in solchem Maße gleichgültig ist.«
Der Mann mit dem Pflaster blickte ihn hochmütig an und zuckte plötzlich mit der Wange. Da erkannte ich ihn. Es war der Kerl mit dem Monokel, der mich bei den Mäzenen so geschickt mit leuchtendem Unflat begossen hatte. Du Aas, dachte ich, du Dieb! Eine Besatzungsarmee braucht er! Der Geist, sehen Sie, ist im Speck erstickt
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