Gesammelte Werke 6
den Kommandanten argwöhnisch. »Nein, warum Sie? Sie wohnen doch ganz woanders, der aber ist ein Hiesiger.«
»Rufen wir ihn auf«, schlug Chlebowwodow vor. »Er könnte uns Milch bringen.«
»Hrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Genosse Subo, rufen Sie den Zeugen zum Vorgang Nummer neunundzwanzig auf.«
»Ach!«, rief der Kommandant und schmiss seinen Strohhut auf die Erde. Die Sache ging zusehends daneben. »Glauben Sie, er würde noch dort sitzen, wenn er herkommen könnte? Er ist sozusagen eingesperrt! Er kann nicht mehr raus! Dort, wo es ihn damals erwischt hat, ist er hängen geblieben.«
Völlig verzweifelt, da er neue Unannehmlichkeiten auf sich zukommen sah, gab nun der Kommandant unter den bohrenden, misstrauischen Blicken der Troika die Sage vom verwunschenen Waldhüter Feofil zum Besten. Vor lauter Furcht überaus wortreich, schilderte er, wie Feofil einst, noch jung und bei Kräften, mit seiner Frau glücklich und froh in seiner Hütte gelebt hatte – bis eines Tages ein grüner Blitz in den Hügel einschlug, der schreckliche Folgen zeitigte. Feofils Frau war gerade in der Stadt gewesen, und als sie wiederkam, konnte sie mit ihren Einkäufen nicht mehr nach Hause auf den Hügel zurück. Und auch Feofil versuchte redlich sie zu erreichen. Zwei Tage lang eilte er, ohne einmal zu verschnaufen, den Hügel hinab, kam aber nie bei ihr an. Also blieb er, wo er war, und seine Frau hier … mit den Einkäufen. Später fand er sich mit seinem Los ab und lebt seitdem auf dem Hügel.
Nachdem Chlebowwodow die furchtbare Geschichte angehört und ein paar spitzfindige Fragen gestellt hatte, kam ihm plötzlich der erleuchtende Gedanke: Feofil war von keiner Volkszählung erfasst worden, hatte sich jedem erzieherischen Einfluss entzogen und war möglicherweise noch immer ein Kulak – ein Großbauer und Ausbeuter.
»Zwei Kühe besitzt er«, sagte Chlebowwodow. »Und das Kälbchen dort. Außerdem eine Ziege. Zahlt aber keine Steuern.« Und plötzlich bekam er ganz große Augen. »Wenn er ein Kälbchen hat, ist also auch irgendwo ein Bulle versteckt!«
»Ja, stimmt, er hat einen Bullen«, gestand der Kommandant niedergeschlagen. »Wahrscheinlich grast er auf der anderen Seite.«
»Also, Freundchen – das sind ja Zustände bei dir«, drohte Chlebowwodow. »Dass du ein Gauner und Blender bist, habe ich gewusst und auch schon immer geahnt, aber das hätte ich nicht einmal dir zugetraut. Dass du ein Kulakenknecht bist, der einen Kulaken und Ausbeuter deckt …«
Der Kommandant holte tief Luft und fing an zu lamentieren: »Ich schwöre bei der Heiligen Jungfrau Maria und bei den ersten zwölf Aposteln …«
Plötzlich hob der Waldhüter Feofil den Kopf, schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und blickte zu uns herüber. Dann stand er auf, warf den Stock beiseite und begann ohne Hast den Hügel hinabzusteigen, wobei er immer wieder im hohen Gras ausrutschte. Die schmutzig weiße Ziege folgte ihm wie ein Schoßhündchen. Feofil kam zu uns, setzte sich und legte das Kinn nachdenklich auf seine knochige, braune Hand. Die Ziege setzte sich neben ihn und heftete ihre gelben, dämonischen Augen auf uns.
»Ganz normale Leute«, stellte Feofil fest. »Erstaunlich …«
Die Ziege musterte jeden Einzelnen von uns und entschied sich für Chlebowwodow.
»Das da ist Chlebowwodow«, meckerte sie. »Rudolf Archi powitsch. Geboren 1910 in Chochloma. Den Vornamen entlehnten seine Eltern einem Roman aus dem Aristokratenmilieu, er hat den Bildungsstand eines Siebtklässlers und geniert sich seiner Herkunft. Er hat viele Fremdsprachen gelernt, beherrscht aber keine davon einwandfrei …«
»Yes«, bestätigte Chlebowwodow, verschämt kichernd. »Natürelmeng, jawoll!«
»Einen richtigen Beruf hat er nicht – er ist einfach Leiter. Derzeit ehrenamtlich. War wiederholt im Ausland: in Italien und Frankreich, in beiden Teilen Deutschlands, in Ungarn, England und so weiter – insgesamt in zweiundvierzig Ländern. Hat überall geprahlt und sich was dazugekauft. Markanter Charakterzug: hochgradige soziale Zählebigkeit und Anpassungsfähigkeit, die auf grundsätzlicher Dummheit und dem unveränderlichen Bestreben beruhen, päpstlicher zu sein als der Papst.«
»So«, meldete sich nun Feofil. »Haben Sie dem etwas hinzuzufügen, Rudolf Archipowitsch?«
»Ganz und gar nicht!«, antwortete Chlebowwodow unbekümmert. »Da war höchstens die Sache mit dem Papst – das verstehe ich nicht ganz.«
»Päpstlicher zu sein als der
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