Gesammelte Werke 6
Greisenaugen mich aufmerksam und präzise von der Seite her abtasteten, wie sich, nur einen Schritt entfernt, geistige Routinearbeit vollzog – computerschnell mischten sich Kärtchen, auf denen alles stand: ob ich dort war oder nicht dort war, teilgenommen hatte oder nicht, ein Amt bekleidete (ja oder nein) – alle Fakten, alle Gerüchte, alle Verleumdungen und alle nur denkbaren Interpretationen von Gerüchten sowie die nötigen Kommentare zu den Verleumdungen. Und dann würde ausgewertet und Bilanz gezogen, würden Schlüsse formuliert, die man in Zukunft vielleicht gebrauchen könnte …
Mir war klar, dass es sich nur um einen Tick von mir handelte, denn der alte Mistkerl kannte mich ja kaum, und selbst wenn – so würde es jetzt ganz anders ablaufen. Die Zeiten hatten sich geändert, und er war ein Greis – keinem von Nutzen und für niemanden eine Gefahr. Kein Jahr verging ohne das Gerücht, er habe das Zeitliche gesegnet; er war mehr der Held historischer Witze und Anekdoten als ein lebendiger Mensch – ein eiternder Schatten, der sich durch die Jahre in unsere Zeit zog. Und trotzdem konnte ich nichts dagegen tun: Ich fürchtete mich.
Plötzlich begann er zu sprechen. Seine Stimme klang kratzig, er nuschelte – sicher saß die Prothese schlecht. Immerhin verstand ich, dass er diesen Winter für schneereich hielt, und noch etwas über das Klima und das Wetter.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte er mich angesprochen. Seine Worte waren platt, jeder hätte sie sagen können,doch wie in jenem Witz hätte ich am liebsten abwehrend die Hände erhoben und gestammelt: »Er redet!«
Vor vielen, vielen Jahren, ich war noch ziemlich jung, ehrlich und unwahrscheinlich dumm, kam mir plötzlich zu Bewusstsein – und es traf mich wie ein Schlag –, dass all diese finsteren Helden von Gruselgerüchten, schwarzen Epigram men und bluttriefenden Legenden nicht im abstrakten Raum von Anekdoten lebten! Da saß beispielsweise einer, schon mächtig angeschlagen, am Nachbartisch und angelte, gutmütig schimpfend, eine Olive aus der Soljanka. Ein anderer kam, auf seinem arthritischen Bein herbeihinkend, die weiße Marmortreppe herunter. Und dann dieser rundliche, ewig Verschwitzte, der wie besessen durch die Gänge des Moskauer Stadtsowjets lief und mit einer Liste von Schriftstellern wedelte, die eine Wohnung brauchten …
Als mir das bewusst geworden war, stand mir die quälende Frage vor Augen: Wie soll ich mich diesen Leuten gegenüber verhalten? Sie waren nach all meinen ethischen und moralischen Werten Missetäter, schlimmer noch: Henker, ja noch schlimmer: Verräter! Es hieß, man hätte ihnen nicht selten ins Gesicht geschlagen, ihnen im Restaurant einen Teller Suppe über den Kopf gekippt oder sie öffentlich angespien. Aber auch das waren Gerüchte. Selbst hatte ich so etwas nie gesehen. Gerüchten zufolge verweigerte man ihnen den Handschlag, wandte sich beim zufälligen Zusammentreffen ab, sagte ihnen scharfe Worte auf Versammlungen und Sitzungen. Ja, dergleichen hatte es gegeben, doch ich kenne keinen einzigen Fall, dem nicht etwas ganz und gar Banales zugrunde gelegen hätte: ein vor der Nase weggeschnappter Ferienscheck, ein dummer kleiner Ehebruch, eine anonyme, dann aber namentlich bekanntgewordene unfreundliche Rezension.
Sie waren, wo wir waren – die Arme bis an die Ellbogen voll Blut, das Gedächtnis triefend vor ungeheuerlichen Details, das Gewissen gewürgt, gar zu Tode erstickt –, sie, die Erben herrenlos gewordener Wohnungen, herrenlos gewordener Manuskripte und herrenlos gewordener Posten. Und wir wussten nicht, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Wir waren jung, wahrheitsliebend und hitzig, wir hätten ihnen am liebsten ins Gesicht geschlagen. Aber sie waren doch alt und ihre welken, aufgedunsenen Gesichter von Falten durch furcht; es war unwürdig, Gestürzte zu treten. Wir wollten sie an den Pranger stellen, ihnen öffentlich ein Schandmal aufdrücken, doch sie waren schon angeprangert und gebrandmarkt, lagen schon auf dem Müll und würden den Kopf nie mehr heben. Der Nachwelt zur Mahnung? Aber dieser Alb würde sich nicht wiederholen, und hatte denn die Nachwelt solche Mahnungen nötig? Überhaupt: In ein, zwei Jahren, schien es, würden sie sowieso im Strudel der Geschichte versinken, und die Frage, ob man ihnen die Hand gab oder sich demonstrativ abwandte, würde sich von selbst lösen.
Doch ein ums andere Jahr verstrich, und ohne dass wir es bemerkten, kam alles anders. Manch einer
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