Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
Vom Netzwerk:
Überlegung gefiel mir, und ich fragte: Wozu könnte ich seiner Meinung nach die Noten sonst brauchen?
    Er war in höchstem Maße verwundert. Interessiere es mich etwa nicht, so etwas zu besitzen? Würde ich vielleicht nicht gern den Nagel haben, mit dem die Hand des Heilands an den Querbalken des Kreuzes geschlagen worden war?Oder die Steinplatte, auf der Satan die Abdrücke seiner Hufe hinterließ, als er am Sarg Papst Gregors des Siebten, Hildebrands, stand?
    Das Beispiel mit der Steinplatte war nach meinem Geschmack. So etwas konnte nur einem einfallen, der keine Ahnung von den heutigen Kleinstwohnungen hatte. Aha, sagte ich, und wenn man die Melodie nicht auf dem Friedhof spielt, sondern irgendwo im Gorki-Park?
    Der gefallene Engel zuckte unschlüssig mit den Schultern. Wahrscheinlich sollte man das besser lassen. Woher wissen wir denn, was sich dort, in diesem Park, drei Meter unter dem Asphalt befindet?
    Ich holte fünf Rubel hervor und legte sie vor dem Buckligen auf den Tisch.
    »Ihr Honorar«, erklärte ich. »Machen Sie so weiter. Sie haben Fantasie.«
    »Nichts habe ich«, antwortete er wehmütig.
    Er stopfte den Fünfer in seine Hosentasche, stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden, davon.
    »Nehmen Sie die Noten mit!«, rief ich ihm nach.
    Doch er drehte sich nicht um.
    Ich musste auf den Kellner warten, um zu zahlen, und aus Langeweile sah ich mir die Noten an. Es waren vier Blätter, auf der Rückseite des letzten stand mit Kugelschreiber gekritzelt: »Granowski-Prospekt 19, ›Perlmuschel‹, kariert. Mantel.«
    Meine Nerven waren in letzter Zeit ziemlich strapaziert worden; allzu sehr hatten sich die Ereignisse gehäuft, und allzu freigiebig hatte sich derjenige gezeigt, der mein Schicksal zu lenken hatte. Jedenfalls sprang ich, sobald ich das von dem »kariert. Mantel« gelesen hatte, auf und blickte aus dem Fensterschlitz – erst nach links, dann nach rechts. Gerade noch rechtzeitig: Der Mann im karierten Wendemantel fasste den goldgelockten Buckligen, der einen schmutzigen, knöchellangen Segeltuchmantel trug, fest am Ellbogen und verschwand mit ihm aus meinem Blickfeld.
    Ich sank auf den Stuhl zurück und stürzte mich auf mein Bier. Das Ende dieser originellen, aber nicht eben angenehmen Geschichte wirkte so niederschmetternd auf mich, dass ich am liebsten sofort nach Hause zurückgekehrt und nirgendwo mehr hingegangen wäre. Zusammenhanglose Verdächtigungen schwirrten durch meine Fantasie, allerscheußlichste Sujets entspannen sich und zerfielen wieder, doch schließlich gewann ein vernünftiger und sehr realistischer Gedanke die Oberhand: Was soll ich nun Fjodor Michejitsch sagen?
    Der Kellner kam, und ich bezahlte widerspruchslos den Fleischtopf, mein Bier und das Bier, das der gefallene Engel bestellt und nicht ausgetrunken hatte. Dann nahm ich meine Mappe, legte die Noten hinein, ließ die leere Mappe des Buckligen auf dem Tisch zurück und ging zur Garderobe, um mich anzuziehen.
    Auf dem ganzen Weg zur Bannaja hielt ich verstohlen nach dem karierten Mantel Ausschau, konnte aber keinen entdecken.
    Der Konferenzsaal war diesmal leer und lag im Halbdunkel. Zwischen den Stuhlreihen hindurch gelangte ich zur Tür, über der das Transparent mit der Aufschrift hing: »Schriftsteller – hier« und klopfte. Niemand antwortete, ich öffnete vorsichtig und sah in einen hell erleuchteten Raum beziehungsweise einen kurzen Flur. An dessen Ende lag noch eine Tür, über der eine kleine Ampel rot leuchtete – wie die verglasten roten Leuchten über den Eingängen zu den Röntgenzimmern. Die obere, erhellte Hälfte der Ampel zeigte die Aufschrift »Kein Zutritt!«. Die untere Hälfte war dunkel, doch konnte man darauf problemlos entziffern »Bitte eintreten«. An der rechten Wand des Flurs standen ein paar Stühle, und auf einem von ihnen saß zusammengekrümmt Eiter pickel höchstpersönlich; seine Hände hatte er auf eine pracht volle, wenn auch schon etwas abgewetzte Schreibmappe gestützt, die auf seinen spitzen Knien lag.
    Bei seinem Anblick verspürte ich wie immer Kälte in meiner Brust, direkt unter den Schlüsselbeinen, und wie immer dachte ich: So was aber auch, der lebt ja immer noch!
    Ich grüßte. Er antwortete, sein eingefallener Mund mahlte. Ich setzte mich zwei Stühle weiter und starrte auf die Wand vor mir. Ich sah nichts, außer dieser gründlich zerschrammten Wand, die schludrig mit hellgrüner Ölfarbe gestrichen war, doch ich spürte physisch, wie die ausgeblichenen

Weitere Kostenlose Bücher