Gesammelte Werke
gekommen, die allein der Klugheit und Entschlossenheit meines Gefährten zu verdanken ist. Mit Hilfe einiger Vorsprünge an der Wand erreichte er ohne Unfall die Talsohle.
Es dauerte eine Weile, bevor ich mich entschließen konnte, ihm nachzufolgen. Peters hatte sich vor dem Abstieg seines Hemdes entledigt; dies musste nun, zusammen mit meinem, das Seil bilden, an dem ich mich herablassen sollte. Ich warf die Muskete hinunter, befestigte mein Seil an den Sträuchern und ließ mich rasch hinab; hoffte ich doch durch die Entschiedenheit meiner Bewegungen die Zaghaftigkeit zu bannen, die mich unversehens befallen hatte und mit jedem Augenblick zunahm. Es gelang mir auch für die ersten vier, fünf Stufen. Dann fühlte ich, dass meine Einbildungskraft sich immer lebhafter mit der unter mir gähnenden Tiefe, der geringen Haltbarkeit der Pflöcke und der Nachgiebigkeit des Specksteines zu beschäftigen anfing. Umsonst strengte ich mich an, meine Augen unverrückt auf die Bergwand zu richten. Je mehr ich mir Mühe gab, nicht zu denken, desto mehr gewannen jene Vorstellungen volles Leben und erschreckende Deutlichkeit. Endlich trat die so gefährliche, in allen Lagen dieser Art so verhängnisvolle Krisis ein, in der man die Empfindung des Fallens vorauszukosten beginnt, in der man sich die Übelkeit, den Schwindel, den letzten Kampf gegen solche Schwäche, die halbe Ohnmacht und zuletzt die grausame Qual des rasend ungestümen Sturzes in furchtbaren Farben ausmalt. Und diese Phantasien schufen sich jetzt eine Wirklichkeit, und alle Schrecknisse, die ich mir eingebildet hatte, stürmten leibhaftig auf mich ein. Meine Knie schlugen heftig aneinander, langsam, aber mit unfehlbarer Gewissheit lockerten sich meine Finger. Ich hörte Geläut in meinen Ohren und sagte zu mir: »Das ist meine Totenglocke.« Und jetzt verzehrte mich ein unwiderstehliches Verlangen, hinabzuschauen. Ich konnte, ich wollte meinen Blick nicht mehr auf die Bergwand beschränken; und mit einem tollen, nicht zu schildernden Gefühl des Grauens und der Erleichterung schaute ich tief in den Abgrund hinab. Einen Augenblick krampften sich die Finger wütend an ihrem Halt fest, während ein ganz leiser und schwacher Gedanke an die Möglichkeit des Entrinnens wie ein Schatten durch meine Seele flog; gleich darauf kannte mein Gemüt nur einen einzigen Wunsch – die Sehnsucht, das Verlangen, das völlig zügellose Begehren, zu fallen, zu fallen! Ich ließ den Pflock los und verblieb, indem ich mich halb von der Tiefe abwandte, eine Sekunde schwankend vor dem Angesicht des Felsens. Jetzt aber fing mein Hirn zu wirbeln an; eine schrill tönende und geisterhafte Stimme kreischte in meinen Ohren; eine finstere, unholde und nebelhafte Gestalt stand gerade unter mir; ich seufzte, mein Herz schien zu zerspringen, und ich stürzte schwer und leblos der düsteren Erscheinung in die Arme.
Es war eine Ohnmacht gewesen. Peters hatte mich im Sturz aufgefangen. Er hatte vom Fuß der Bergwand aus meine Bewegungen betrachtet, und da er sah, in welcher Gefahr ich mich befand, hatte er sich nach Kräften bemüht, mir Mut einzuflößen, aber meine Geistesverwirrung war so groß, dass ich ihn gar nicht hörte, dass mir gar nicht zum Bewusstsein kam, wie einer da überhaupt zu mir sprach. Endlich sah er mich wanken und beeilte sich, mir entgegenzuklettern; er kam gerade recht, um mich vor dem Tod zu bewahren. Wäre ich mit meinem vollen Gewicht herabgestürzt, so hätte der leinene Strick unfehlbar zerreißen müssen, ich wäre in die Tiefe geschleudert worden. So aber gelang es Peters, mich sanft aufzufangen; ich hing in Sicherheit an der Felswand, bis ich mein Bewusstsein wieder erlangt hatte. Das dauerte etwa eine Viertelstunde. Als ich zu mir kam, war meine Angst völlig geschwunden; ich fühlte mich wie neugeboren und erreichte, von meinem Gefährten leicht unterstützt, wohlbehalten den Fuß der Felsenwand.
Wir befanden uns jetzt in der Nähe jener Klamm, die unseren Kameraden zum Grab geworden war, und zwar auf der südlichen Seite des Bergrutsches. Die Landschaft besaß eine eigentümliche Wildheit, und ihr Anblick rief mir die Schilderungen ins Gedächtnis, in denen die Reisenden das verheerte Babylon uns vor Augen zu führen suchen. Im Norden bildeten die Ruinen zerrissener Felswände einen chaotischen Hintergrund; in jeder anderen Richtung lag der Boden mit ungeheuren Schutthügeln bedeckt, die die Überbleibsel riesenhafter Bauwerke zu sein schienen, obwohl man in den
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