Gesang der Rosen
ich sie für mich selbst noch abschreiben möchte, zur Erinnerung, wenn diese Lieder in Paris der Welt zugänglich gemacht werden. Ich kann mich nur schwer von ihnen trennen, das werden Sie verstehen.«
»Natürlich … natürlich …«, stammelte Bonnet und grub die Nägel in die Handballen, daß es schmerzte. »In einer Woche … alle Originale?«
»Ja … Aber ich muß noch zwei Bedingungen stellen …«
»Welche?«
»Erstens möchte ich, daß Sie mich mit nach Paris nehmen …«
»Schon gewährt!«
»Und zweitens – das wird Sie überraschen – habe ich meine Meinung geändert. Ich gebe Ihnen die Lieder nicht umsonst, sondern erwarte ein finanzielles Entgelt.«
»Auch einverstanden. Wieviel?«
»Das überlasse ich Ihnen. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich Geld zur Verwirklichung meiner Pläne brauche. Außerdem soll auch noch für meine armen Eltern etwas abfallen.«
»Sie werden zufrieden sein«, sagte Professor Bonnet, dem kein exakter Preis, den André genannt hätte, zu hoch gewesen wäre.
In der folgenden Nacht lag André Tornerre noch lange wach in seinem Bett, und seine Gedanken kreisten um die Frage: Wer bin ich?
Endlich schlief er ein und träumte. Dieselbe Frage stellte sich ihm im Traum wieder. Er sah sich vor einem Spiegel stehen, hörte sich ein Gespräch führen.
Der Junge vor dem Spiegel fragte den im Spiegel: »Wer bist du?«
»Wer bist du?« fragte der Junge im Spiegel zurück.
»Ich bin André Tornerre«, lautete die Antwort. »Und du?«
»Marcabrun.«
*
Als der übernächste Abend kam und sich lange, bläuliche Schatten von den Hügeln auf Carpentras herabsenkten, stand André geduckt hinter seiner Hecke in der Nähe des Tergnier-Anwesens und wartete auf seine Jeanette, von der er wußte, daß sie um diese Zeit oft zum Krämer geschickt wurde. Unterm Arm trug er eine dünne Mappe und blickte vorsichtig nach allen Seiten, ob ihn auch niemand sah, drückte sich noch tiefer in die dichte Hecke, ließ aber die Straße nicht aus den Augen.
Die Unruhe seines Herzens, das schlechte Gewissen machte ihm zu schaffen. Seit ihn Bonnet auf dem Hügel verlassen hatte, redete er sich ununterbrochen ein, daß der von ihm in Gang gesetzte, ungeheure Betrug an Mensch und Seele, Geist, Gesetz und Ehre nur eine Rettung seiner Lieder darstelle, denen das Schicksal, niemals beachtet zu werden, nie an die Öffentlichkeit zu gelangen, erspart bleiben müsse.
Doch sosehr er auch das drängende, wie eine Last ihn drückende Gewissen zu beruhigen suchte, er fühlte doch mit einer schmerzhaften Klarheit die große Schuld, die er mit einem Wort, mit einer Zahl, ja, nur mit der Duldung eines Irrtums auf sich lud.
Endlich bog Jeanette mit einem Henkelkorb um die Kurve der Straße und kam auf die Hecke zu, in der André ungeduldig wartete: Ihr Anblick verwirrte ihn einen Moment, und der Gedanke, diese menschliche Blume von der großen Wiese seiner Sehnsucht gepflückt und an sein Herz gedrückt zu haben, trieb ihm das Blut zum Herzen.
Jeanette hatte es eilig. Ihre Absätze klapperten, schon hatte sie die Hecke erreicht, in deren Schatten sich der Küstersohn verbarg.
Ein leises Rascheln ließ sie zusammenfahren, sie stoppte kurz, doch dann ging sie wieder weiter, ohne die Hecke zu beachten.
»Jeanette …«
Flüsternd fast hatte es André gerufen. Das Mädchen fuhr herum und preßte den Korb wie zum Schutz an die junge Brust.
»André?« fragte sie leise zurück.
»Ja, ich bin es. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?«
»Die Eltern warten …«
»Nur einen Augenblick?«
Da nickte sie. Sie trat näher und streckte ihre Hand aus, die André mit seinen heißen Fingern umklammerte.
»Komm, hier können wir nicht stehenbleiben. Ich möchte dich etwas fragen«, sagte er leise und zog das Mädchen durch eine Lücke in einen Garten, eilte mit ihr über ein unbestelltes Beet und schob sie in eine alte, verfallene Laube.
»Was willst du hier?« sträubte sich Jeanette und drehte sich schon wieder halb um. »Ich habe keine Zeit. Die Eltern warten, sagte ich dir doch schon.«
»Wir sind gleich fertig, Jeanette. Ich habe nur eine Frage an dich …«
»Welche?«
»Glaubst du an mich?«
Jeanette blickte ihn verdutzt an, wußte offenbar nicht, was sie sagen sollte, schüttelte dann den Kopf und erwiderte: »Ich glaube an Gott, André! Wie kannst du so etwas fragen?«
»Glaubst du an mich als an einen Menschen?«
»Als an einen Menschen?«
»Als an einen Dichter?«
»Bist du denn ein
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