Gesang des Drachen
dieser Form bisher einzig von seinem Bruder Torio kannte.
»Anscheinend willst du mich etwas fragen, ehrenwerter Todfeind, also tu's, bevor du von innen her zerrissen wirst wie ein Blähkäfer.«
Spyridon lächelte. »Den Spruch hast du dir gemerkt, was?«
»Was möchtest du wissen?«
Der Ewige Todfeind zeigte auf das Handgelenk, an dem bis vor Kurzem das vertrocknete Cairdeas festgeknotet gewesen war. »Wer sie war. Und warum bist du in Bóya in Ungnade gefallen?«
Überrascht hob Naburo die Augenbrauen. »Das interessiert dich?«
»Ja. Ich glaube, diese beiden Dinge zu wissen verrät mir mehr über dich als alles andere bisher.«
Naburo zögerte. Er hatte lange nicht über Kariyana gesprochen und die Dinge, die damals geschehen waren. »Was meine Liebe angeht, muss ich weiter ausholen. Die Wut der Tenna auf mich dagegen ist leichter zu erklären. Ich war ihr bester Krieger und hatte den Befehl, ihre Tochter, Chiyosana-todari-da-ina, die einzige Thronerbin, während eines Einsatzes in der Menschenwelt zu beschützen. Stattdessen habe ich zugelassen, dass sich Chiyosana in meinen Bruder verliebte und in der Menschenwelt blieb.«
»Ist das so furchtbar? Dein Bruder muss wie du von hohem Blut sein.«
»Er ist ein Uragirmon.«
Spyridon stieß zischend die Luft aus. »Ein Meidling? Du hast zugelassen, dass die Thronerbin mit einem Meidling durchbrennt? Das hätte ich dir nicht zugetraut.« In seiner Stimme lag ungläubiger Respekt.
Naburo grinste. Er fühlte sich mit einem Mal leicht und frei wie ein Jungelf im Heranwachsen. »Die beiden haben eine Rockband gegründet: Elftale. Mein Bruder ist zu Unrecht verbannt worden.« Er spürte, wie seine gute Laune nachließ. »Und das hat mit dem vertrockneten Cairdeas zu tun. Denn die Tenna kann immer nur ein Kind haben, ein Mädchen, und empfängt erst ein neues, wenn ihre Tochter tot ist. Das ist ihr Fluch der Unsterblichkeit. Und ich war derjenige, der ihre erste Tochter liebte.«
In Gedanken reiste er zurück in die dunstigen Wälder Bóyas, in denen man selten die Sonne sah. Kariyana saß nackt auf einem flachen Stein im Bach und flocht sich – von ihm abgewandt – die schwarzblauen Haare. Der rote Streifen auf der Mitte ihrer Unterlippe, den er durch die seitliche Haltung ihres Kopfes erkennen konnte, leuchtete wie ein verzaubertes Rosenblatt, und sie summte eine helle Melodie, die sich mit dem Plätschern des Wassers zu süßer Harmonie verband.
Eine Weile war er einfach am Ufer stehen geblieben und hatte sie betrachtet, ehe sie ihn bemerkte und sich lächelnd zu ihm umwandte.
Naburo fragte sich, ob nicht genau diese kurzen, seltenen Momente innerhalb der Ewigkeit die wertvollsten Geschenke waren, die ein Elf erhalten konnte. Dieses Bild von Kariyana im Wasser, wie sie selbstvergessen ihre Haare flocht, kam ihm zuerst in den Sinn, wann immer er nach all den Jahren an sie dachte.
Spyridon sah ihn neugierig, aber nicht ungeduldig an, während er wartete und eine hübsche Magd in einem Prunkkleid ein kräftiges Wildgulasch servierte.
Naburo steckte in alter Angewohnheit einen Finger in das Essen, nahm weder Gift noch Spuren von Magie wahr und schob den Teller ein Stück beiseite, damit der Inhalt abkühlen konnte. Auf der anderen Tischseite griff Spyridon beherzt zu. Er aß eine Spur zu schnell.
»Kariyana-ame-no-tannaria«, sagte Naburo. »So hieß die erste Tochter der Tenna. Mein Bruder war ihr Leibwächter, ich der oberste General der Truppen. Du kennst die Kriege in Bóya?«
»Ich hörte davon. Es geht um Abstammungsrechte und Dämonenkrieger, nicht?«
»Wir nennen sie Oni. Wie die Tenna gibt es in Bóya einen anderen, der göttliche Wurzeln hat und deshalb den Thron für sich beansprucht. Im letzten Krieg waren wir siegreich und zerschmetterten das Heer durch eine List. Der Anführer der Oni entkam. Er ist ein Günstling des Windgottes und schwebte wie eine Wolke davon. Er wollte sich an der Tenna rächen, aber auch an mir. Zusammen mit anderen Windgünstlingen machte er sich auf den Weg in den Palast der Tenna. Es gelang ihm, einzudringen und die Wachen zu töten. Ehe wir mit dem Heer vor Ort waren, verschaffte er sich mit Gewalt Zugang in den Turm der Prinzessin und tötete sie auf grausame Weise.« Naburo verstummte. Auch wenn man es seiner Stimme nicht anhörte, erschütterte es ihn, über die Ereignisse zu sprechen.
Spyridon kniff die Augen zusammen. »Sagtest du nicht, dein Bruder wäre ihr Leibwächter gewesen? Konnte er sie nicht
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