Gesang des Drachen
weißblondes Haar und zarte Rundungen. Aber an Hanin reichte sie in keiner Weise heran, und selbst wenn sie das täte, hatte Naburo kein Interesse daran, sich mit ihr zu vergnügen.
Sie kam hinter ihm her. »Bleibt. Es ist unhöflich, die Destiga in der Erntenacht zurückzuweisen. Die Tradition verlangt, dass Ihr Euch mir hingebt und wir gemeinsam die Früchte der Felder ehren.«
Naburo zögerte. »Wofür sind die Scheiterhaufen gedacht?«
»Für das Erntefeuer natürlich.« Sie schmiegte sich an ihn, dass es Naburo trotz seiner Ablehnung heiß unter der Rüstung wurde. »Wann habt Ihr das letzte Mal im Licht des Feuers geliebt, fremder Krieger?« Ihr Finger strich über sein Gesicht, griff nach einer blauschwarzen Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, und streichelte sie.
Behutsam nahm er ihre Hand und schob sie von sich. »Das ist lange her, Destiga. Vergebt mir, aber diesen Brauch kann ich nicht erfüllen.« Er zögerte. »Dieses Fest erinnert mich an andere weniger friedliche Feste meiner Vergangenheit. Offensichtlich habe ich Unheil gesehen, wo keines ist. Ich wünsche Euch eine segensreiche Nacht.«
Er wandte sich ab und ging die wenigen Holzstufen hinunter, als ihre Stimme ihn innehalten ließ. »Es wird ein Opfer geben, falls Ihr das meint. Aber ich bin es nicht.« Ihre Stimme klang traurig. »Und auch das Feuer wird es nicht bekommen. Ihr tut recht zu gehen, Fremder, denn Ihr könnt nichts verändern oder aufhalten. Es ist, wie es ist.«
Die dunklen Vorahnungen kamen zurück und hüllten Naburo in einen schwarzen Kokon. »Wer ist es? Was wird in dieser Nacht geschehen?«
Statt einer Antwort drehte sie sich um und kehrte in die Hütte zurück. Ob sie fürchtete, beobachtet zu werden? Vielleicht gab es etwas, das sie ihm nur drinnen sagen konnte. Naburo zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr. Sollten die Dörfler, die sie vielleicht aus den Schatten heraus beobachteten, ruhig glauben, dass sie sich im Inneren der Hütte eine Freude zur Ernte gönnten. Seine Neugierde war geweckt. Er hatte sich in Bóya mehrfach dafür eingesetzt, dass barbarische Bräuche verboten wurden. Wenn die weiße Flamme ihn rief, würde er auch an diesem Ort handeln.
In der Hütte war es dunkel. Es roch nach Süßspeisen und Gekochtem. Die Fremde entzündete eine Kerze und drehte sich zu ihm um. Sie weinte nicht, aber während Naburo sie ansah, dachte er an den See der ungeweinten Tränen, den er überquert hatte.
»Dort«, flüsterte sie und zeigte auf eine Ecke des schlicht eingerichteten Wohnraums. »Ich bin die Erntekönigin, und dies bringe ich dar.«
Naburo schluckte. In einer Wiege, ausgekleidet mit dunkelblauem Samt, lag ein Säugling, den Daumen in den Mund gepresst, und schlief. Er hatte krauses schwarzes Kopfhaar, runde Wangen und samtbraune Haut. Um seinen Hals lag ein dünner Kranz aus Ähren. Auf der Stirn prangte das Symbol eines dreieckigen Auges, das mit Blut gezeichnet war.
»Ist das Euer Kind?«
»Mein Sohn.« Sie wirkte gefasst. »Nun habt Ihr gesehen, was wir opfern, Fremder. Geht, denn Ihr könnt es nicht verhindern.«
»Wird das Kind dem Feuer überlassen?« In Bóya opferte man gern dem Feuer. Dem Weißen, dem Roten und dem Schwarzen.
»Nein, aber ...« Ihr Kehlkopf zuckte. »Ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Niraa. Auf mir lastet das Unglück, die letzte Frau zu sein, die vor dem Fest niederkam. Deshalb muss ich das Opfer bringen, das verlangt die Gemeinschaft. Ein Kind stirbt. Aber dafür leben die anderen Kinder weiter.«
»Erzählt mir mehr.«
»Warum?« Hass lag in ihrer Stimme. »Ihr seid ein Elf, oder? Ein Spitzohr! Was kümmert es Euch? Ihr wart neugierig, wie Elfen es eben sind, und ich kam Eurer Neugierde nach. Aber Ihr werdet mir ebenso wenig helfen wie alle anderen.« Noch immer schimmerten in ihren Augen keine Tränen, obwohl ihre Stimme verzweifelt klang.
Naburo hob die Hand. »Ich verstehe Eure Vorbehalte, Niraa. Ihr habt recht, das Ganze geht mich nichts an.« Tat es das wirklich nicht? Er war in ihre Hütte getreten und sah das Kind vor sich liegen. War nicht jedes Leben, ganz gleich ob elfisch oder menschlich, ein heiliges Gut?
»Geht!«, sagte Niraa. Sie drehte ihm den Rücken zu und beugte sich über ihren Sohn.
Naburo berührte ihre Schulter. »Ich bin ein Krieger der Weißen Flamme und folge den Regeln und Gesetzen, die ich mir selbst auferlegte. Mich geht nicht an, was Euch geschieht, es sei denn, Ihr bittet mich um Unterstützung. Diese
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