Gesang des Drachen
aber der erste Bewacher hatte ihn fast erreicht.
Vier Meter.
Simon sah, wie er die Lippen bewegte, ihn wahrscheinlich ansprach.
Drei Meter.
Dann drehte er sich zu seinem Begleiter um, der ihn zur Seite zog und den Arm ausstreckte.
Zwei Meter.
Die Hand berührte seine Schulter.
Simon sprang.
Und öffnete die Augen. Jemand rüttelte ihn.
»Wach auf«, sagte sein Bewacher rüde.
Die Farbenpracht der Welt überwältigte Simon einen Moment lang. Er zwang sich zu einem Gähnen, dann stützte er sich auf die Ellenbogen. Sittenpolizisten liefen hektisch über den Platz. Rimmzahn stand in der Tür, umgeben von Wachen, die ihre Schwerter gezogen hatten.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Simon. »Macht ihr eine Übung?«
Seine Bewacher musterten ihn, dann warfen sie sich einen kurzen Blick zu. »Das geht dich nichts an«, sagte der Wortführer. »Such dir Arbeit! Diese Siedlung räumt sich nicht von allein auf.«
Simons Knie wurden weich, als er sich erhob. Das war knapp gewesen, viel zu knapp. Trotzdem lächelte er, als seine Bewacher sich abwandten. Er wusste nicht nur, was der Schattenelf war, sondern auch, wie man ihn und damit Rimmzahn besiegen konnte.
12.
Die geflohenen Flüchtlinge
Zwei Tage nach der Flucht.
Du bist stark und bereit für den Kampf. Deochar streichelte das schneeweiße Gefieder des Hippogreifen, der ihm in den letzten Tagen auf dem engen Raum besonders ans Herz gewachsen war. Er strich über weiche Federn, unter denen sich harte Muskeln wölbten, und genoss den seltenen Moment, da er nicht von zwanzig oder mehr Iolair umgeben wurde.
Der Greif erwiderte die Aufmerksamkeit, indem er seinen Schnabel kurz gegen Deochars Brust drückte.
Neben ihm nahm Taria den Huf eines anderen Hippogreifen in die Hand und zog das Bein nach hinten weg, um es zu begutachten. »Sie sind einsatzbereit. Wenn es so weit ist, werden sie gute Dienste leisten.«
Die spindeldürre Elfe hatte ein Paar blau schillernde Flügel auf dem Rücken, das sie wie einen Schmetterling aussehen ließ. Sie war eine der Ersten gewesen, die sich Deochar angeschlossen hatten, während er in den Wirren um das Auftauchen des Schattenlords geflohen war. Seitdem kümmerte sie sich in erster Linie um die Flugtiere und ihr Spezialgebiet: Kampfzauber.
»Das werden sie.« Deochar tätschelte den Greif. »Ich hoffe, dass es bald in die Schlacht geht. Wir müssen einen Weg finden, den Schattenlord aufzuhalten.« Der Gedanke an das unheimliche Geschöpf jagte Deochar einen Schauder über den Rücken. Er konnte die Fäulnis auf der Zunge schmecken, die sich als ekelerregender Geruch ausgebreitet hatte, während das Wesen aus Donner, Blitzen und Schwärze wie ein Sturm über das Lager gekommen war und sie davongejagt hatte.
»Es ist wie ein Witz«, murmelte er. »Wir sind die Rebellen der Rebellen. Die geflohenen Flüchtlinge.«
Taria ließ das Hinterbein des Hippogreifen los und sah zu ihm auf. Ihre Flügel bewegten sich zaghaft auf und ab. »Zweifle nicht. Du bist unser Anführer. Wir brauchen dich.«
Wir oder du?, dachte Deochar, doch er sprach es nicht aus. Er wollte Taria nicht in ihrer Vernarrtheit in ihn unterstützen, denn er empfand nichts für sie.
Sie streckte ihm die Hände entgegen. Schwaches Licht glomm darin.
»Was tust du?«, fragte Deochar.
Sie lächelte ihn an. Für eine Elfe waren ihre Züge ungewöhnlich grob, doch ihre Flügel machten das wett. Wenn sie schillerten, lenkte sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich wie eine Schauspielerin auf der Bühne. »Ich sammle meine Magie. Für einen Zauber.«
Hoffnung regte sich in Deochar. »Hast du eine Idee, wie wir dem Schattenlord beikommen können?« Er wollte das Lager zurückerobern, aber er wusste nicht, wie. Der letzte Versuch, dem dunklen Übel Einhalt zu gebieten, war ein Desaster gewesen. Seit das Auftauchen des Schattenlords ihn zusammen mit etwa einhundert anderen Iolair in einen tiefer gelegenen, verborgenen Teil des Höhlensystems unter dem Vulkan gezwungen hatte, hielt er die Füße still.
Taria war ganz in den Zauber vertieft, den sie wob. Ein zartes Stück Garn formte sich aus Licht und wuchs rasch an wie ein Faden, gewonnen von Seidenraupen. »Der Schattenlord. Warum vergisst du ihn nicht einmal, Deochar? Ja, wir müssen uns gegen ihn wehren, aber wir haben auch noch einen anderen Feind, wie du weißt.«
»Alberich. Glaub mir, ich denke oft an ihn.«
Taria spann den Faden weiter, ließ ihn länger werden. »Lass uns nicht nur an den Feind
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