Gesang des Meeres - Feehan, C: Gesang des Meeres - Turbulent Sea (6 - Joley u. Ilya Prakenskii)
Wahrheit etwas zu nahe gekommen.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter, weil sie die jungen Mädchen sehen wollte, doch die waren mit den Roadies und Brian aus ihrer Sichtweite verschwunden. Logan war bereits fort, und sie würde den Reverend nicht auf ihn hetzen. Wenn er gewusst hätte, dass Logans unverheiratete Freundin gerade ein Kind gebar, wäre er ins Krankenhaus gerast und hätte versucht, auf Logans Kosten Schlagzeilen an sich zu reißen.
»Ich habe Sie sagen hören, hier seien junge Mädchen. Wenn das wahr ist, kann ich vielleicht meinen Beistand anbieten.« RJ trat noch weiter vor und kam ihr damit viel zu nah.
Sie hätte ihre Haltung verändern und zur Seite treten können, um mehr Raum zu haben, doch Paul, der größte der Wächter, verstellte ihr den Weg. Sie merkte, dass sie von einem engen geschlossenen Kreis umgeben war.
»Steigen Sie in den Wagen, Joley«, sagte RJ. »Wir können ohne all diesen Lärm in Ruhe darüber reden. Wenn die jungen Leute Hilfe brauchen, bin ich für sie da. Sie müssen an mich glauben. Ein Ausrutscher macht mich nur menschlich. Meine Vorgeschichte spricht für mich.«
Seine Stimme war jetzt bewusst eine Spur tiefer, und sie erkannte den charismatischen Tonfall, den er nach Belieben einsetzen konnte. Fast hätte sie laut gelacht. Sie war eine Drake, und ihr Vermächtnis war das Bannsingen, in puncto Klang die mächtigste Gabe auf Erden. Wenn sich der Reverend auf eine Klangschlacht einlassen wollte, hatte er sich die falsche Gegnerin ausgesucht.
»Ich vermute, jeder ist menschlich, RJ«, räumte sie ein und senkte ihre Stimme zu einem trägen, gedehnten, erotischen Tonfall, der dazu gedacht war, über die Sinne eines Mannes zu gleiten. Sie sah den Schauer des Erkennens, der den Reverend überlief, fühlte die zunehmende Glut im Kreise der Männer und begriff, dass sie mit dem Feuer spielte. Paul drängte sich
noch enger an sie heran, bis sie spüren konnte, wie sein Oberschenkel ihre Hüfte streifte.
Das war eine Dummheit, Joley! Legst du es darauf an, vergewaltigt zu werden, wenn nicht noch Schlimmeres?
Die Stimme schlich sich in ihren Kopf ein. Eine männliche Stimme. Eine Form von sexueller Raserei ließ sie surren. Ihr Herz machte einen Satz, und ihr Magen schlug einen verrückten kleinen Purzelbaum. Sie wagte es nicht, den Blick von den Männern zu lösen, die sie umstanden, doch abgesehen von grenzenloser freudiger Erregung verspürte sie gegen ihren Willen auch Erleichterung.
Sie versuchte, den Rückzug anzutreten und aus dem Kreis auszubrechen, doch sie erkannte, dass die hintere Tür der Limousine noch offen stand und sie kaum einen Schritt davon entfernt war. Sie blickte in dem Moment zu Paul auf, als sein Arm sich um ihre Taille schlang. Auf seinem Gesicht stand wilde Entschlossenheit, sie auf den Rücksitz zu schleudern.
Sie stieß sich von seinem Körper ab und riss ihre Ellbogen als Waffen zur Seite, um Zentimeter zu gewinnen, damit sie ihre Füße benutzen konnte. Wenn hinter einem Tritt ans Knie ihr gesamtes Körpergewicht stand, konnte sie ihn mühelos zu Fall bringen.
Ohne jede Vorwarnung begab sich ein weiterer Mann in den Kreis hinein. Ihn umgab vollständiges und uneingeschränktes Selbstvertrauen. Alle erstarrten – auch Joley.
Und von einem Moment auf den anderen konnte Joley den wahren Grund nicht mehr leugnen, weshalb sie persönlich hier erschienen war, statt ein paar Telefonate zu führen. Das war der Grund für ihr Kommen. Ilja Prakenskij, Sergej Nikitins russischer Leibwächter. Ein gefährlicher Mann mit einer undurchsichtigen Vergangenheit, Tod in den Augen und einem bedrohlichen ätherischen Reiz, der jeden ihrer Sinne zum Klingen brachte.
Dieser Gesichtsausdruck. Ilja Prakenskij war immer Herr
der Lage, immer gelassen und ließ sich nie etwas ansehen. Seine Augen waren so kalt wie Eis und nie, nicht ein einziges Mal, hatte sie ungehindert in sein Inneres schauen können, wie es ihr bei anderen Menschen möglich war – es sei denn, er wollte es. Es sei denn, er öffnete seinen Geist vorsätzlich für sie und ließ sie flüchtige Blicke auf den wahren Mann erhaschen. Sie hatte ihn nie wirklich wütend auf jemand anderen als sie selbst erlebt. Sie besaß Macht über ihn, ob er es zugeben wollte oder nicht, und vielleicht war es gerade das, was ihn so in Wut versetzte. Er begehrte sie. Es lag in der Glut seines Blickes, im Schwung seines Mundes, in der Wollust, mit der er sie ansah, aber vor allem in seinen Berührungen, wenn er
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