Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
Geschmack als ich. Und sie interessierte sich gar nicht dafür, was gerade in war. Sie wollte mir immer nur langweiligen und praktischen Kram kaufen und wenn ich das dann nicht wollte, stritten wir uns. Oder sie kaufte es einfach und wir schwiegen verbissen, bis wir wieder zu Hause waren. Mit mir einkaufen zu gehen dauerte zehn Mal so lange, wie mit Stefan einzukaufen, sagte Mama immer.
Wenn ich etwas gespart hatte, durfte ich jetzt auch mal mit Silvia alleine in die Stadt, vorausgesetzt, ich war um sechs wieder zu Hause. Mama wollte nicht, dass wir zu lange in der Innenstadt »rumhingen«.
Es war super, nach der Schule mal nicht direkt nach Hause zu gehen. Es gab immer öfter Streit zu Hause, auch mit Stefan, und ich war froh, dem Generve mal zu entkommen. Besonders beim Mittagessen zofften wir uns in letzter Zeit dauernd.
Silvia war pünktlich und wir freuten uns, uns zu sehen. Obwohl wir nicht mehr zusammen zur Schule gingen, war sie immer noch meine beste Freundin. Durch das gemeinsame Tanztraining sahen wir uns mindestens einmal in der Woche automatisch. Meistens verabredeten wir uns zusätzlich noch zwei- oder dreimal oder telefonierten so lange, bis irgendein anderes Familienmitglied bei ihr oder bei mir Terror machte, weil die Leitung so lange belegt war.
Wir holten uns bei Nordsee schnell zwei Brötchen und schlenderten damit dann langsam die Schildergasse runter. Silvias Budget waren 15Mark, sie wollte sich eine Kette mit einem großen Kreuz kaufen, so eine wie Madonna in dem Video von Like a Prayer trug. Unser erstes Ziel war der Jeanspalast, ein total cooler Laden auf der Schildergasse mit verspiegelten Wänden und Spiegeln auf dem Boden. Die laute Musik aus dem Jeanspalast hörten wir schon hundert Meter, bevor wir überhaupt da waren. Die Verkäuferinnen sahen total lässig aus, einige trugen sogar Ray-Ban-Sonnenbrillen! Silvia und ich schauten langsam die Kleiderständer durch. Es gab so viel, was ich gerne anprobiert hätte! Vor allem Levi’s501. Die kosteten 140Mark, darauf würde ich noch ewig sparen müssen, Mama würde mir so eine teure Jeans niemals kaufen. Ich überlegte noch einmal kurz, ob ich das Geld, was ich für den Minirock vorgesehen hatte, doch besser sparen sollte, bis ich genügend für eine 501 zusammenhatte. Aber einen Minirock wollte ich jetzt unbedingt haben. Die 501 würde noch ein bisschen länger warten müssen. Es gab drei Jeansröcke, die mir gefielen. Am coolsten fand ich einen superkurzen, engen, moonwashed Jeansrock. Er war ziemlich hell, an manchen Stellen fast weiß. Zum Glück gab es ihn in meiner Größe, er passte mir wie angegossen. Und kostete 29,90Mark, so konnte ich mir auch noch die knallblauen Dreiecksohrringe vom Accessoire-Ständer dazu leisten.
Ich war so stolz auf meinen neuen Minirock, dass ich ihn den ganzen Abend mit verschiedenen Oberteilen und Schuhen anprobierte. Ich kombinierte ihn mit einem langärmligen T- Shirt, mit einem kurzärmligen und mit einer Bluse. Ich kombinierte ihn mit Sandalen, mit Ballerinas und mit den Mokassinstiefeln, die ich zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte. Am besten fand ich die Kombination weiße Bluse und Mokassinstiefel. Das sah ziemlich cool aus. Fast als wäre ich schon sechzehn.
Genau das trug ich, als ich am nächsten Morgen zum Frühstück runterkam. Außerdem natürlich die neuen blauen Ohrringe. Ich wollte mich gerade an den Küchentisch setzen und mir einen Tee nehmen, als Mama mich von oben bis unten musterte.
»Das meinst du nicht ernst, Janine!«, sagte sie.
Ich merkte sofort, dass sie sauer war. Papa ließ die Zeitung sinken und musterte mich. Stefan war schon weg. Das Gymnasium war weiter weg als meine Schule und er musste immer früher aufstehen als ich.
»Was meinst du?«, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Es war mir klar, dass sie die Klamotten meinte. Nicht schon wieder, dachte ich.
»Du weißt genau, dass ich deine Kleidung meine.«
»Was ist denn damit?«
»Das sieht einfach furchtbar aufreizend aus, was du da anhast. Der Rock ist viel zu kurz, die Bluse zu weit aufgeknöpft, und dann auch noch diese Stiefel und diese billigen, viel zu großen Plastikohrringe! So gehst du keinen Schritt aus dieser Haustür, geschweige denn in die Schule!« Mama war laut geworden, sie klang jetzt ziemlich wütend.
»Das ist nicht aufreizend, das ist einfach modern!«, schrie ich zurück. Warum kapierte sie das einfach nicht? Es war immer das Gleiche: Kaum zog ich etwas an, das ein bisschen modisch
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