Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
bei Silvia sein würden. Ich fiel ihr um den Hals und bedankte mich.
Dabei kam ich mir ein bisschen schlecht vor. Denn ich hatte nicht wirklich vor, bei Silvia zu übernachten. Ich schob das Gefühl weg. Ich war sechzehn! Und ich hatte so etwas Ähnliches wie einen Freund. Was sollte ich denn tun? Wenn Mama mich dazu zwang, sie zu belügen, war es nicht meine Schuld, fand ich. Außerdem wäre es ja nur das eine Mal. Und sie würde es nie erfahren. Niemand würde es erfahren. Niemand außer Silvia und Christian natürlich. Silvias Mutter kannte Mama und Papa zwar, aber sie liefen sich so selten über den Weg, dass ich mir ziemlich sicher war, dass mein Täuschungsmanöver nicht auffliegen würde.
Ich traf Christian auf der Party. Wir hatten ausgemacht, dass wir getrennt voneinander kommen und gehen würden. Ich war total nervös. Christian wusste zwar, dass er sich keine Hoffnungen zu machen brauchte: Ich würde bei ihm übernachten, aber mehr auch nicht. Das hatte ich vorher völlig klargestellt. Trotzdem war ich nervös. Ich mochte Christian sehr gern, aber ich war mir nicht sicher, was ich eigentlich von ihm wollte. Würde ich es herausfinden, wenn ich endlich einmal ungestört genügend Zeit mit ihm verbringen konnte? Ich hoffte es.
Um halb zwölf verabschiedete ich mich von Silvia. Da ich immer früh gehen musste, fiel niemandem etwas auf. Silvia grinste: »Na dann, viel Spaß mit Mister Gigolo! Pass auf dich auf.«
»Keine Sorge«, sagte ich knapp. Silvia war kein großer Fan von Christian. Sie glaubte, dass er die Situation bestimmt ausnützen würde, und fand mich naiv.
Eine Viertelstunde später kam Christian zu der Straßenecke, an der wir uns verabredet hatten. Wir fuhren die fünf Minuten bis zu ihm nebeneinander. Mein Fahrrad stellten wir in eine der beiden Garagen, die zu dem Haus seiner Eltern gehörten. Sie waren im Urlaub, hätten aber auch sonst sicher nichts von meinem Besuch mitbekommen, weil Christian einen eigenen Eingang hatte. Er wohnte im ausgebauten Dachgeschoss in einer kleinen separaten Wohnung.
Als ich hinter ihm die Treppe nach oben ging, bekam ich weiche Knie. Würde er irgendetwas tun, was ich nicht wollte? War ich wirklich so naiv, wie Silvia dachte?
»Alles in Ordnung?«, fragte Christian, als wir oben angekommen waren.
Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. Er nahm mich in den Arm und küsste mich. Seine Wohnung war eigentlich nur ein einziger riesiger Raum. Auf der einen Seite lag eine große Matratze als Bett auf dem Boden, auf der anderen Seite gab es eine kleine Sofaecke mit Stereoanlage und Fernseher. Dort setzten wir uns. Er machte Musik an, mir zuliebe Whitney Houston. Zur Feier des Tages wollte er eine Flasche Sekt aufmachen, aber ich lehnte dankend ab. Alkohol war einfach überhaupt nicht mein Fall.
Er setzte sich neben mich und wir küssten uns noch einmal lange.
»Du bist etwas ganz Besonderes für mich, Janine, weißt du das?«
Ich lächelte. Was sollte ich darauf sagen?
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?« Jetzt lächelte er auch. Seine blauen Augen strahlten.
»Aber es ist so. Bei dir fühle ich mich immer wie ein kleiner Junge. Du bringst mich ganz durcheinander.«
Während er das sagte, schob er seine Hand unter mein T- Shirt und strich über meinen Rücken.
»Ich vertraue dir, dass du dich an das hältst, was wir ausgemacht haben«, flüsterte ich in sein Ohr.
Er hielt in der Bewegung inne, fasste mich an den Schultern und sah mir tief in die Augen.
»Das kannst du auch. Es passiert nichts, was du nicht willst. Das verspreche ich dir.«
So war es dann auch. Wir redeten viel. Wenn uns nichts mehr einfiel, knutschten wir, bis uns wieder etwas einfiel, was wir uns unbedingt erzählen mussten. Christian spielte mir seine Lieblingslieder vor und zeigte mir alle möglichen Fotos, die er in einer großen Holzkiste aufbewahrte. Plötzlich war er gar kein Mister Gigolo mehr und ich merkte, wie gern ich ihn hatte, wenn er so offen und normal war wie jetzt.
Irgendwann schliefen wir sogar ein bisschen. Trotzdem war ich fast gar nicht müde, als ich am nächsten Morgen um halb acht aufwachte. Ich hatte mit Mama ausgemacht, dass ich mit dem Fahrrad direkt zum Gottesdienst kommen würde. Die Sonntagsmesse ausfallen zu lassen, kam bei ihr nicht in die Tüte. Ich hatte gar nicht erst versucht, mit ihr zu diskutieren.
Ich putzte mir die Zähne, kämmte mir die Haare und trank nebenbei von dem Tee, den mir Christian hingestellt hatte. Dann verabschiedeten wir
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