Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
Frau blätterte mit gleichgültiger Miene in dem Album und wollte zweifellos Os Bild übergehen und so tun, als erkenne sie sie nicht, als ihr Mann sagte: »Ach, sieh mal, da ist ja diese hier, sie ist sehr ähnlich.« Die junge Frau sah O an, ohne zu lächeln. »Wirklich?« fragte sie. »Blättern Sie die nächste Seite um«, sagte Michel. »Hast du die Bemerkung gelesen?« fragte ihr Mann. Sie klappte das Album zu und gab keine Antwort. Aber als O, die den ersten Gang geholt hatte, zum Tisch zurückkam, sah sie, daß sich die junge Frau angeregt unterhielt und Michel lachte. Dann schwiegen sie jedesmal, wenn O in der Nähe war, indes nicht rasch genug, als sie den Kaffee brachte, denn sie hörte, wie der Ehemann drängte: »Nun los, entscheide dich.« Michel fügte etwas hinzu, was O nicht verstand, und die junge Frau zuckte die Schultern. Im Zimmer zog sie sich nicht aus, mit ihren knöchernen Händen berührte sie O leicht, die die Klauen eines großen Vogels auf ihrer Haut zu spüren glaubte, dann sah sie zu, wie O ihren Mann streichelte und sich ihm hingab. Als sie gingen und O nackt zurückließen, hatten sie sie nicht geschlagen, nicht mißhandelt, nicht beleidigt. Sie hatten höflich mit ihr gesprochen. Niemals hatte sie sich mehr gedemütigt gefühlt.
»Diese Weiber«, sagte Noelle, die O mit dem Ehepaar hatte weggehen sehen, sie darüber befragte und dann erfuhr, was vorgegangen sei und welchen Eindruck O gehabt habe, »diese Weiber sind ebensolche Nutten wie wir, das kannst du mir glauben, sonst würden sie nicht herkommen, aber sie bilden sich ein, wer weiß was zu sein! Wenn ich könnte, würde ich sie ohrfeigen.« Diese Ansicht über die Frauen, die als Gäste hier waren, war beharrlich und einhellig. Wenn indessen Noelle - und übrigens auch alle anderen Mädchen und O - diejenigen Mädchen beneideten, die durch ihren Geliebten nach Roissy gebracht worden waren, dann einzig und allein um des Interesses willen, das ihr Geliebter ihnen entgegenbrachte, und ohne den geringsten Groll oder wirkliche Eifersucht. O hatte bei ihrem ersten Aufenthalt nicht geahnt, welches Verlangen sie bei diesen Mädchen erweckt haben mußte, das Verlangen, mit ihr zu reden, ihr zu helfen, zu erfahren, wer sie sei, sie zu umarmen, diese Mädchen, die sie bei ihrer Ankunft ausgezogen, gewaschen, frisiert, geschminkt und ihr das Korsett und das Kleid wieder angezogen hatten, die sich dann Tag für Tag um sie gekümmert und so vergeblich versucht hatten, mit ihr zu sprechen, wenn sie sich nicht überwacht glaubten; um so vergeblicher, als sie niemals versucht hatte, ihnen zu antworten. Als sie an der Reihe war, den sogenannten Zimmerdienst zu versehen, das heißt, daß sie sich in Begleitung von Noelle in die Zimmer der großen Klausur zu begeben hatte, um den dort untergebrachten Mädchen bei der Toilette zu helfen, war O dermaßen verwirrt durch diese Art von vervielfältigtem Abklatsch, durch diese in mehreren Exemplaren vorhandene Inkarnation dessen, was sie selbst gewesen war und das man ihr jetzt wieder in die Hände gab, daß sie die Schwelle der roten Zimmer nie ohne Zittern überschritt. Denn alle diese Zimmer waren rot. Was sie am meisten betrübte, war, daß es ihr nie gelang, mit Sicherheit dasjenige wiederzufinden, das einst das ihre gewesen war. Das dritte? Die große Pappel rauschte vor dem Fenster. Die bleichen Astern, die sich den ganzen Herbst über halten würden, blühten, wie es sich gehörte. Es war September, Tag- und Nachtgleiche. Aber das fünfte Zimmer hatte auch seine Pappel und seine Astern. O war mit einem zierlichen Mädchen beschäftigt, weiß vor der scharlachroten Tapete, zitternd, ihre Schenkel trugen zum ersten Mal die violetten Striemen des Reitstocks. Sie hieß Claude. Ihr Geliebter war ein magerer junger Mann in den Dreißigern, der die Liegende an den Schultern hielt, wie René O gehalten hatte, und sie voll Leidenschaft anblickte, als sie ihren flaumigen, brennenden Schoß einem Mann öffnete, den sie noch nie gesehen hatte und unter dem sie stöhnte. Noelle wusch sie. O schminkte sie, schnürte ihr das Korsett, zog ihr das Kleid an. Sie hatte zarte Brüste mit rosigen Spitzen und runde Knie. Und war stumm und verstört. Sie und die Mädchen, die gleich ihr den Mitgliedern gehörten, die sich allein in sie teilten, diese Mädchen, die sich schweigend hingaben und, sobald man sie als ausreichend bereit und gedrillt ansah, Roissy verlassen würden, den eisernen Ring am Finger, um außerhalb
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