Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
andere Mädchen über einen sich nur kurz hier aufhaltenden Gast ausfragte - abgesehen davon, daß Pässe oder Ausweise vorgelegt werden mußten (es wurde hoch und heilig versichert, daß man die Kennummern nicht notierte), um einen »vorläufigen Ausweis« zu erhalten - kurz und gut, Roissy wurde offiziell ignoriert, offiziös geduldet. Einer der Gründe dafür war zweifellos (außer jenen, auf die die erwähnte Überwachung schließen läßt), daß es niemals Beschwerden wegen venerischer Ansteckung noch Ärgernisse mit Schwangerschaften und Abtreibungen gegeben hatte. O hatte sich immer gefragt, wie sich die Mädchen, wenn sie manchmal mit zehn Männern pro Tag schliefen, die keinerlei Behinderung duldeten, vor Schwangerschaften schützten. Alle konnten nicht wie sie vom Zufall begünstigt sein; eine Verlagerung, die das Risiko praktisch ausschloß. »Man kann dem Zufall nachhelfen, O«, sagte Anne-Marie, als sie ihr die Frage stellte. Woraus sie schloß, daß Anne-Marie, die Ärztin war, die Mädchen von Roissy heimlich operiert hatte. Bei keiner von ihnen bemerkte man jemals das bange Aussehen von Frauen, bei denen sich die Regel verspätet. »Ach, das ist gar nicht schlimm, und man ist beruhigt, weißt du«, sagte Noelle eines Tages, »aber ich kann es dir nicht erklären, ich bin eingeschläfert worden.« O vermutete, daß es verboten war, darüber zu sprechen.
Sich vor Ansteckung zu schützen war schwieriger: die Tabletten, die man sich auflösen ließ, die prophylaktischen Maßnahmen, die Duschen. Die größte Ansteckungsgefahr war am Mund: das Rouge, das das Rissigwerden der Lippen verhinderte, trug dazu bei, diese Gefahr zu verringern. Außerdem untersuchte Anne-Marie die Mädchen jeden Tag. Sie wurden gepflegt, notfalls isoliert - in Zimmern, die unter ihrer Wohnung lagen, bis sie geheilt waren. Die Mädchen, die von ihrem Geliebten hergebracht worden waren, unterlagen dieser Pflege und diesen Zwangsmaßnahmen nicht: es ging auf ihr Risiko, und außerdem kamen sie aus der großen Klausur nicht heraus. Was die anderen betraf, so vermochte O nie ganz zu begreifen, wovon es abhing, in welchem Ausmaß sie innerhalb der Gitter und in welchem Ausmaß sie außerhalb eingesetzt wurde. Einesteils gab es einen festgelegten Dienstplan für das, was in Uniform zu erledigen war; so und so viele Tage Dienst im Restaurant; desgleichen, in Abendkleidern, so und so viele Nachmittage oder so und so viele Abende in der Bar anwesend zu sein. Indessen wurden die Bar und das Restaurant sowohl von Gästen als auch von den Klubmitgliedern aufgesucht, und nichts hinderte die letzteren, ein Mädchen zu nehmen und wieder in den Bereich der Gittertüren zu bringen. Andererseits schien es ganz nach Lust und Laune zu gehen: ein Beispiel dafür war die Tatsache, daß, als ein Diener kam, um zwei Mädchen für die Bar aufzufordern, Noelle und O dazu bestimmt wurden, und nicht Monique oder Madeleine.
Als O Noelle folgte und zum erstenmal die Bar betrat, alle beide in Mantille, fiel ihr auf, wie ähnlich dieser Raum der Bibliothek war, aus der sie gerade kamen: dieselben Abmessungen, dieselbe Holzverkleidung, dieselben Sessel. Die hübsche kleine Rothaarige, die wie O Eisen trug und epiliert war und die O einmal bei Anne-Marie mit einem so verwunderten Vergnügen gepeitscht hatte, kauerte, in grauen Satin gekleidet, auf einem hohen Barhocker und lachte mit zwei Männern. Als sie O sah, sprang sie herunter, um sie zu umarmen, faßte sie um die Taille und kam mit ihr zurück. »Das ist O«, sagte sie, »wollen Sie sie einladen? Sie werden keine bessere finden.« Und durch den schwarzen Tüll küßte sie eine von Os Brustspitzen. »Sie verraten Ihre Namen nicht«, sagte sie zu O, »aber sie sehen nett aus, findest du nicht?« Nett - nein, das war lächerlich. Sie sahen zugleich verlegen und ordinär aus, und ihr dritter Aperitif hatte nicht ausgereicht, ihnen Selbstvertrauen einzuflößen. Als O ihr Glas von der Theke nehmen wollte, streifte ihr Arm das Knie des rechts von ihr Sitzenden: er faßte nach ihrem beringten Handgelenk und fragte, warum sie alle eiserne Armbänder trügen. »Als ob sie das nicht wüßten!« rief Yvonne. »Das macht nichts. Wir erklären es ihnen beim Essen. Los, kommt.« Dann sah sie, daß sich der Mann, der gefragt hatte, als er von seinem Hocker herunterkletterte, bemühte, dem anderen ein Zeichen zu geben, und sagte zu O: »Gib ihm schnell die Hand, dann kann er nicht sagen, daß du ihm nicht gefällst.« Im
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