Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
ihres Bettes, nachdem Sir Stephen offenbar beschlossen hatte, sie dort liegen zu lassen, wo er sie dann tatsächlich fast drei Stunden liegen ließ, hörte O in ihrer Erinnerung seine Stimme, eben seine Stimme, die sie so verwirrt hatte, als er ihr an dem ersten Abend, an dem er sich ihrer bemächtigt, sie geohrfeigt, ihr die Lenden zerfetzt hatte, so eingehend dargelegt hatte, er wolle von ihr und werde von ihr schiere Unterwürfigkeit und Gehorsam erhalten, wobei sie sich einbildete, daß sie das nur mit Liebe gewähren könne. Wessen Schuld war es, wenn nicht die ihre, wenn es genügte, sie peitschen zu lassen, damit sie ihm gehöre? Wenn sie vor jemandem Abscheu haben sollte, müßte sie dann nicht vor sich selbst Abscheu haben? Und wenn er sich ihrer bediente zu anderen Zwecken als seiner Lust, was ging sie das an? »Oh ja«, sagte sich O, »ich habe Abscheu vor mir. Werde ich die Stirn haben, mich zu beklagen, ich sei getäuscht worden, nicht darüber unterrichtet worden, hundertmal, tausendmal, weiß ich denn nicht, wozu ich geschaffen bin?« Aber sie wußte nicht mehr, ob ihr davor graute, Sklavin zu sein - oder nicht genug Sklavin zu sein. Es war weder das eine noch das andere; ihr graute davor, nicht mehr geliebt zu werden. Was hatte sie getan, was hatte sie zu tun unterlassen, daß sie es verdiente, nicht mehr geliebt zu werden? Wie töricht bist du doch, O, als ob es sich um Verdienst handelte, als ob du etwas dabei tun könntest. Auf die Eisen, die ihren Schoß beschwerten, auf die Brandmale, die in ihre Lenden eingegraben waren, war sie stolz gewesen und war es noch, weil sie kundtaten, daß derjenige, der sie hatte anbringen lassen, sie genug liebte, um sie sich zu eigen zu machen. Mußte sie sich jetzt schämen, daß sie, wenn er sie nicht mehr liebte, immer noch die Zeichen dafür waren, daß sie ihm gehörte? Denn schließlich wollte er immer noch, daß sie ihm gehöre.
Der 15. September kam; O, Natalie und Sir Stephen waren immer noch da. Aber jetzt war Natalie an der Reihe, in Tränen zu schwimmen: ihre Mutter forderte sie zurück, und sie mußte Ende des Monats wieder in ihr Pensionat. Wenn O nach Roissy gehen mußte, würde sie allein gehen. Sir Stephen fand O auf ihrem Sessel sitzend, das kleine Mädchen weinend an ihre Knie gelehnt. O reichte ihm den Brief, den sie erhalten hatte: Natalie sollte in zwei Tagen aufbrechen. »Sie haben versprochen«, sagte das Kind, »Sie haben versprochen...« - »Es ist nicht möglich, Kleines«, sagte Sir Stephen. »Wenn Sie wollten, wäre es möglich«, beharrte Natalie. Er antwortete nicht. O streichelte die seidenweichen Haare, die gegen ihre nackten Knie strichen. Tatsächlich, wenn Sir Stephen wirklich gewollt hätte, wäre es O zweifellos möglich gewesen, bei Natalies Mutter zu erreichen, sie noch vierzehn Tage bei sich zu behalten unter dem Vorwand, sie in der Nähe von Paris mit aufs Land zu nehmen. Und in vierzehn Tagen hätte Natalie... Also hatte Sir Stephen seine Meinung geändert. Er stand am Fenster und blickte in den Garten. O beugte sich zu der Kleinen hinunter und küßte ihre tränennassen Augen. Sie warf Sir Stephen einen raschen Blick zu: er rührte sich nicht. Sie küßte Natalie auf den Mund. Erst Natalies Stöhnen veranlaßte Sir Stephen, sich umzudrehen, aber O ließ sie nicht gleich los, glitt neben ihr auf den Boden und legte sie auf den Teppich. Mit zwei Schritten war Sir Stephen bei ihnen. O hörte, daß er ein Streichholz anstrich, und roch den Duft seiner Zigarette: er rauchte schwarze wie ein Franzose. Natalie hatte die Augen geschlossen. »Zieh sie aus, O, und streichle sie«, sagte er plötzlich. »Dann gibst du sie mir. Aber öffne sie erst ein bißchen; ich will ihr nicht zu weh tun.« Das war es also? Ach, wenn sie ihm nur Natalie geben mußte! War er in sie verliebt? Es schien eher, daß er in dem Augenblick, da sie verschwinden würde, mit irgendetwas Schluß machen, eine Schimäre zerstören wollte. Natalie war zwar rundlich und mollig, aber dennoch grazil und kleiner als O. Sir Stephen schien doppelt so groß zu sein wie sie. Ohne sich zu regen, ließ sie sich von O ausziehen und auf das Bett legen, von dem O die Laken zurückgeschlagen hatte, und sie stöhnte, als O sie berührte, und biß die Zähne zusammen, als sie sie verletzte. Os Hand war bald voller Blut. Aber Natalie schrie nicht unter dem Gewicht von Sir Stephen. Es war das erste Mal, daß O sah, wie Sir Stephen seine Lust bei jemand anderem als bei ihr fand,
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