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Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy

Titel: Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Réage
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und vor allem das erste Mal, daß sie sein Gesicht dabei sah. Wie er auswich! Ja, er drückte Natalies Kopf gegen seinen Leib und packte mit der ganzen Faust ihre Haare, wie er es auch mit Os Haaren machte; O überzeugte sich, daß er das nur tat, um die Liebkosung des Mundes besser zu spüren, der ihn umschloß bis zu dem Augenblick, da er sich in ihn ergoß. Aber jeder Mund, vorausgesetzt, er war gelehrig genug und leidenschaftlich genug, hätte ihn ebenso befriedigt. Natalie zählte nicht. War O sicher, daß sie zählte? »Ich liebe Sie«, wiederholte sie ganz leise, zu leise, als daß er es hörte, »ich liebe Sie«, und sie wagte nicht, ihn zu duzen, nicht einmal in Gedanken. In seinem Gesicht, das sie umgekehrt sah, schimmerten Sir Stephens graue Augen zwischen den fast geschlossenen Lidern wie zwei leuchtende Schlitze. Zwischen seinen halbgeöffneten Lippen blitzten auch seine Zähne. Er erschien einen Augenblick wehrlos, als er spürte, daß O ihn ansah, und den Fluß verließ, auf dem er dahintrieb, von dem O glaubte, daß sie so oft mit ihm dahingetrieben war, ausgestreckt neben ihm in der Barke, die die Liebenden davonträgt. Aber es war zweifellos nicht wahr. Sie waren zweifellos allein gewesen, jeder auf seiner Seite, und vielleicht war es kein Zufall, daß ihr sein Gesicht, wenn er sich in sie versenkte, immer verborgen gewesen war; vielleicht wollte er allein sein; und nur heute war es ein Zufall. O sah darin ein unheilvolles Zeichen; das Zeichen, daß sie ihm so gleichgültig geworden war, daß er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, sich abzuwenden. Jedenfalls war es unmöglich, wie immer man es auch auslegte, darin nicht eine Gewähr, eine Freiheit zu sehen, die O, wenn sie nicht daran gezweifelt hätte, geliebt zu werden, sorglos, stolz, sanft und glücklich hätten machen müssen. Das sagte sie sich. Als Sir Stephen ging und die kleine Natalie in ihren Armen zurückließ, die sich an sie schmiegte, glühend und murmelnd vor Stolz, sah sie sie an, bis sie einschlief, und zog dann das Laken und die leichte Decke über sie beide. Nein, er war nicht in Natalie verliebt. Aber er war abwesend, vielleicht sich selbst ebenso fern, wie er ihr fern war. Über Sir Stephens Beruf hatte O sich niemals Gedanken gemacht, und René hatte niemals davon gesprochen. Es war offensichtlich, daß er reich war, auf jene geheimnisvolle Weise, wie englische Aristokraten reich sind, wenn sie es noch sind; woher kamen seine Einkünfte? René arbeitete für eine Import- und Exportfirma, René sagte: »Ich muß nach Algier fahren wegen Jute, nach London wegen Wolle, wegen Fayencen, ich muß nach Spanien fahren wegen Kupfer«, René hatte ein Büro, er hatte Teilhaber und Angestellte. Wie bedeutend seine Position eigentlich war, war nicht klar, aber jedenfalls gab es diese Position, und die Verpflichtungen, die sie mit sich brachte, waren augenfällig. Sir Stephen hatte vielleicht auch eine Position, die möglicherweise der Grund für seinen Aufenthalt in Paris war, für seine Reisen und - daran dachte O nicht ohne Schrecken - für seine Mitgliedschaft von Roissy (eine Mitgliedschaft, die ihr bei René einfach die Folge eines Zufalls zu sein schien - ein Freund, den ich traf, hat mich mitgenommen, sagte er - O glaubte es). Was wußte sie von Sir Stephen? Seine Zugehörigkeit zum Clan der Campbell, deren düsterer Tartan in Schwarz, Dunkelblau und Grün der schönste Tartan von Schottland ist, und der verrufenste (die Campbell haben zur Zeit des jungen Prätendenten die Stuarts verraten); die Tatsache, daß er im nordwestlichen Hochland ein granitenes Schloß besaß, klein und gedrungen, von einem Vorfahren des 18. Jahrhunderts im französischen Stil erbaut, und einem Haus in der Gegend von Saint-Malo ganz ähnlich. Aber welches Haus in der Gegend von Saint-Malo hätte als Rahmen jemals derartig von Wasser benetzte Rasenflächen gehabt, als Mantel derartig üppigen wilden Wein? »Nächstes Jahr werde ich dich dorthin mitnehmen, und Anne-Marie auch«, hatte Sir Stephen gesagt, als er O eines Tages Photos zeigte. Aber wer wohnte in dem Schloß? Was für eine Familie hatte Sir Stephen? O vermutete, daß er Berufsoffizier gewesen war oder vielleicht noch war. Einige seiner Landsleute, die jünger waren als er, redeten ihn schlicht mit Sir an, wie ein Untergebener einen Vorgesetzten. O wußte recht gut, daß es auf den britischen Inseln noch ein Vorurteil oder eine eigentümliche Sitte gab: ein Mann ist es sich schuldig, seiner

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