Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
bolschewistischen Plakaten gegangen waren und eine Woche später strenge Strafen gegen die Agenten des Kaisers forderten, dann schien es, die gebildeten Skeptiker könnten einen Sieg feiern: Das sind eure Massen, das ist ihre Beständigkeit und ihr Begriffsvermögen! Doch dies ist ein billiger Skeptizismus. Würden die Massen tatsächlich ihre Gefühle und Gedanken unter dein Einfluß zufälliger Umstände wechseln, unerklärlich wäre die gewaltige Gesetzmäßigkeit, die die Entwicklung großer Revolutionen charakterisiert. Je tiefer die Volksmillionen erfaßt werden, um so planmäßiger die Entwicklung der Revolution, mit um so größerer Sicherheit kann man die Kontinuität der weiteren Etappen voraussagen. Man darf dabei nur nicht vergessen, daß die politische Entwicklung der Massen nicht in einer Geraden, sondern in einer komplizierten Kurve verläuft: ist doch dies im wesentlichen die Bahn aller materiellen Prozesse. Die objektiven Bedingungen stießen Arbeiter, Soldaten und Bauern gebieterisch unter das Banner der Bolschewiki. Doch beschritten die Massen diesen Weg im Kampfe mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit ihrem gestrigen und teilweise auch noch heutigen Glauben. An schweren Wendepunkten, in Augenblicken von Mißerfolg und Enttäuschung, schwimmen die alten, noch nicht verkohlten Vorurteile an die Oberfläche, und die Gegner greifen naturgemäß danach wie nach einem Rettungsanker. Alles, was an den Bolschewiki unklar, ungewohnt, rätselhaft war - Neuheit der Gedanken, Vermessenheit, Verleugnung aller alten und neuen Autoritäten -, all das fand nun plötzlich eine einfache, sogar in ihrem Unsinn noch überzeugende Deutung: deutsche Spione! Die gegen die Bolschewiki erhobene Beschuldigung war im Grunde der Einsatz auf die sklavische Vergangenheit des Volkes, auf das Erbe der Finsternis, Barbarei, des Aberglaubens, - und dieser Einsatz war kein leerer. Die große patriotische Lüge blieb während der Monate Juli und August ein politischer Faktor ersten Grades und bildete die Begleitung zu allen Tagesfragen. Die Kreise der Verleumdung verbreiteten sich im Lande zusammen mit der Kadettenpresse, erfaßten Provinz und Randgebiete, drangen in die entlegensten Winkel. Ende Juli forderte die Iwanowo-Wosnessensker Organisation der Bolschewiki immer noch die Eröffnung einer energischeren Kampagne gegen die Hetze! Die Frage nach dem spezifischen Gewicht der Verleumdung im politischen Kampfe der zivilisierten Gesellschaft harrt noch ihres Soziologen.
Und doch war die Reaktion bei den Arbeitern und Soldaten, eine nervöse und stürmische, weder tief noch von Dauer. Die fortgeschrittenen Betriebe Petrograds begannen schon in den ersten Tagen nach der Niederschlagung sich zu erholen, sie protestierten gegen Verhaftungen und Verleumdung, rüttelten an den Türen des Exekutivkomitees, stellten Verbindungen wieder her. In dem Sestrorezker Waffenwerk, das eine Erstürmung und Entwaffnung erlitten hatte, nahmen die Arbeiter bald wieder das Steuer in ihre Hände: eine allgemeine Versammlung am 20. Juli beschloß, den Arbeitern die Demonstrationstage zu bezahlen, um den Betrag restlos auf Literatur für die Front zu verwenden. Die offene Agitationsarbeit der Bolschewiki in Petrograd wird, nach dem Zeugnis von Olga Rawitsch, um den 20. Juli herum wieder aufgenommen. In den Versammlungen, die von nicht mehr als zwei- bis dreihundert Menschen besucht werden, sprechen in verschiedenen Stadtteilen drei Personen: Slutzki, später in der Krim von Weißen ermordet, Wolodarski, ermordet von Sozialrevolutionären in Petrograd, und Jewdokimow, ein Petrograder Metallarbeiter, einer der hervorragendsten Redner der Revolution. Im August nimmt die Agitationstätigkeit der Partei breitere Ausmaße an. Nach einer Aufzeichnung Raskolnikows gab der am 23. Juli verhaftete Trotzki im Gefängnis folgendes Bild von der Lage in der Stadt: "Menschewiki und Sozialrevolutionäre ... setzen die wütende Hetze gegen die Bolschewiki fort. Verhaftungen unserer Genossen dauern an. Jedoch in den Kreisen der Partei herrscht keine Niedergeschlagenheit. Im Gegenteil, alle blicken hoffnungsvoll in die Zukunft und sind der Ansicht, die Repressalien könnten die Popularität der Partei nur stärken. Auch in den Arbeitervierteln ist keine Entmutigung wahrzunehmen." In der Tat, sehr bald nahm eine Arbeiterversammlung von siebenundzwanzig Betrieben des Peterhofer Bezirks eine Protestresolution an gegen die unverantwortliche Regierung und deren konterrevolutionäre
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