Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
weltgeschichtlicher Wege. Die Aufgaben der verspäteten bürgerlichen Revolution mußten sich mit den Perspektiven der proletarischen Weltbewegung kreuzen, damit es möglich werde, das Programm der Diktatur des Proletariats für Rußland aufzustellen. Es war ein höherer Standpunkt, nicht ein nationaler, sondern ein internationaler Horizont erforderlich, gar nicht zu sprechen von einer ernsteren Ausrüstung als jener, über die die sogenannten russischen Praktiker der Partei verfügten.
Der Sturz der Monarchie eröffnete in ihren Augen die Ära eines "freien" republikanischen Rußland, in dem sie sich anschickten; einen Kampf um den Sozialismus zu beginnen nach dem Beispiel der westlichen Länder. Drei alte Bolsche-wiki, Rykow, Skworzow und Wegmann, telegraphierten "im Auftrage der durch die Revolution befreiten Sozialdemokraten des Narymer Gebiets" im März aus Tomsk: "Wir begrüßen die auferstandene Prawda, die so erfolgreich die revolutionären Kader für die Eroberung der politischen Freiheit vorbereitet hat. Wir sprechen unsere tiefe Überzeugung aus, daß es ihr gelingen wird, diese Kader für den weiteren Kampf im Namen der nationalen Revolution um ihr Banner zu vereinigen." Aus diesem Kollektivtelegramm spricht eine ganze Weltanschauung: sie ist durch einen Abgrund von Lenins Aprilthesen getrennt. Die Februarumwälzung verwandelte die führende Parteischicht, mit Kamenjew, Rykow und Stalin an der Spitze, sofort in demokratische Landesverteidiger, dabei mit einer Entwicklung nach rechts in die Richtung einer Annäherung an die Menschewiki. Der spätere Geschichtsschreiber Jaroslawski, das spätere Oberhaupt der Zentral-Kontrollkommission, Ordschonikidse, und der spätere Vorsitzende des ukrainischen ZentralExekutivkomitees, Petrowski, gaben im Monat März in engem Bündnis mit den Menschewiki in Jakutsk die Zeitschrift Der Sozialdemokrat heraus, die an der Grenze von patriotischem Reformismus und Liberalismus stand: in den späteren Jahren wurde diese Publikation eifrig gesammelt und vernichtet.
Die Petersburger Prawda versuchte zu Beginn der Revolution eine internationalistische Position einzunehmen, allerdings eine äußerst widerspruchsvolle, die nicht über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie hinausging. Die aus der Verbannung eingetroffenen Bolschewiki von Autorität gaben dem Zentralorgan sogleich eine demokratischpatriotische Richtung. Sich gegen den Vorwurf des Opportunismus verteidigend, brachte Kalinin am 30. Mai in Erinnerung: "Nehmen wir beispielsweise die Prawda. Anfangs hatte die Prawda eine bestimmte Politik verfolgt. Stalin, Mura-now, Kamenjew trafen ein und drehten das Steuer der Prawda nach einer anderen Seite."
"Man muß offen zugeben", schrieb, als es noch erlaubt war, solche Dinge zu schreiben, Angarski, einer aus jener Schicht, "daß eine große Zahl alter Bolschewiki vor der Aprilkonferenz der Partei in der Frage nach dem Charakter der Revolution von 1917 an den alten bolschewistischen Ansichten von 1905 festhielt und daß die Preisgabe dieser Ansichten, ihre Liquidierung, nicht so leicht erfolgte." Es wäre noch hinzuzufügen, daß die überlebten Ideen von 1905 im Jahre 1917 aufgehört hatten, "alte bolschewistische Ansichten" zu sein und Ideen des patriotischen Reformismus wurden.
"Lenins Aprilthesen", lautet eine offizielle historische Version, "waren im Petrograder Komitee vom Mißgeschick geradezu verfolgt. Für diese Thesen, die eine Epoche bilden sollten, sprachen sich nur zwei, gegen sie dreizehn, bei einer Stimmenthaltung, aus."
"Allzu kühn schienen Lenins Ansichten sogar seinen begeistertsten Anhängern", schreibt Podwojski. Lenins Auftreten hatte - nach Meinung des Petrograder Komitees und der Militärischen Organisation - "... die Partei der Bolschewiki zur Einsamkeit verurteilt und damit selbstverständlich die Lage des Proletariats und der Partei aufs äußerste verschlechtert". "Man muß offen sagen", schrieb vor einigen Jahren Molotow, "die Partei besaß weder die Klarheit noch die Entschlossenheit, die der revolutionäre Moment erforderte ... Der Agitation wie der revolutionären Parteiarbeit insgesamt fehlte die feste Basis, weil der Gedanke noch nicht bis zu den kühnen Schlußfolgerungen in bezug auf die Notwendigkeit des unmittelbaren Kampfes für den Sozialismus und die sozialistische Revolution vorgedrungen war." Der Umschwung begann erst im zweiten Monat der Revolution. "Seit dem Eintreffen Lenins in Rußland im April 1917", bezeugt Molotow,
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