Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
notwendiger, als gerade gegenwärtig die Stalin-Fraktion unerhörte Anstrengungen macht, und zwar im internationalen Maßstabe, um aus dem historischen Gedächtnis jegliche Erinnerung auszulöschen daran, wie sich in Wirklichkeit die Oktoberumwälzung vorbereitet und vollzogen hat.
In den Jahren vor dem Weltkriege nannten sich die Bolschewiki in der legalen Presse "konsequente Demokraten" Dieses Pseudonym war nicht zufällig gewählt: Die Losungen der revolutionären Demokratie vertrat der Bolschewismus, und nur er allein, mutig bis zu Ende. Aber in der Prognose der Revolution ging er nicht weiter als die Demokraten. Der Krieg jedoch, der die bürgerliche Demokratie untrennbar mit dem Imperialismus verband, enthüllte endgültig, daß das Programm der "konsequenten Demokratie" nicht anders gelöst werden kann als durch die proletarische Revolution. Wen von den Bolschewiki der Krieg dies nicht gelehrt hatte, den mußte die Revolution fraglos unvorbereitet finden und in einen linken Mitläufer der bürgerlichen Demokratie verwandeln.
Indes beweist das sorgfältige Studium der Materialien, die das Parteileben während des Krieges und zu Beginn der Revolution kennzeichnen, trotz ihrer äußersten und nicht zufälligen Unvollständigkeit und ihrem seit dem Jahre 1923 wachsenden tendenziösen Charakter immer mehr, welch gewaltiges geistiges Hinabgleiten die obere Schicht der Bol-schewiki während des Krieges durchmachte, als das geregelte Parteileben faktisch aufgehört hatte. Die Ursache des Hinabgleitens ist eine zweifache: Loslösung von den Massen und Loslösung von der Emigration, das heißt vor allem von Lenin, und als Folge davon: Versinken in Isoliertheit und in Provinzialismus.
Nicht einer der alten Bolschewiki in Rußland formulierte, sich selbst überlassen, während des ganzen Krieges auch nur ein Dokument, das man wenigstens als einen kleinen Markstein auf dem Wege von der Zweiten zur Dritten Internationale betrachten könnte. "Die Fragen des Friedens, des Charakters der künftigen Revolution, der Rolle der Partei in der kommenden Provisorischen Regierung und so weiter", schrieb vor einigen Jahren ein altes Parteimitglied, Antonow-Saratowski, "stellen sich uns entweder recht verschwommen dar oder fielen gar nicht in unseren Gedankenbereich." Bis auf den heutigen Tag ist überhaupt nicht eine Arbeit, nicht eine Tagebuchseite, nicht ein Brief veröffentlicht worden, worin Stalin, Molotow und die anderen der heutigen Führung auch nur nebenbei, auch nur flüchtig ihre Ansichten über die Perspektiven des Krieges und der Revolution formuliert hätten. Das heißt natürlich nicht, daß die "alten Bolschewi-ki" über diese Fragen in den Jahren des Krieges, des Zusammenbruchs der Sozialdemokratie und der Vorbereitung der russischen Revolution nichts geschrieben hätten; die historischen Ereignisse verlangten allzu gebieterisch eine Antwort, und Gefängnis und Verbannung ließen Muße genug zum Nachdenken und Briefwechsel. Aber in all dem, was über dieses Thema geschrieben wurde, ist nirgendwo etwas zu finden, was man auch nur gezwungenermaßen als Annäherung an die Ideen der Oktoberrevolution deuten könnte. Es genügt, darauf zu verweisen, daß das Institut für Parteigeschichte nicht in der Lage ist, auch nur eine Zeile aus Stalins Feder aus den Jahren 1914-1917 zu veröffentlichen, und daß es gezwungen ist, sorgfältigst die wichtigsten Dokumente vom März 1917 zu verbergen. In den offiziellen politischen Biographien der Mehrheit der heute regierenden Schicht sind die Kriegsjahre gekennzeichnet als leere Stelle. Dies ist die ungeschminkte Wahrheit.
Einer der neueren jungen Geschichtsschreiber, Bajewski, dem die besondere Aufgabe anvertraut wurde, nachzuweisen, wie die Parteispitzen sich während des Krieges zur proletarischen Revolution hinentwickelt hätten, vermochte bei aller an den Tag gelegten Biegsamkeit seines wissenschaftlichen Gewissens den Materialien nichts als die magere Erklärung abzupressen: "Der Hergang dieses Prozesses läßt sich nicht verfolgen, doch beweisen manche Dokumente und Erinnerungen unzweifelhaft, daß ein unterirdisches Tasten des Parteidenkens in der Richtung der Leninschen Aprilthesen vorhanden war ... " Als ginge es um unterirdisches Tasten und nicht um wissenschaftliche Einschätzungen und politische Prognosen.
A priori zu den Ideen der Oktoberrevolution kommen konnte man nicht in Sibirien, nicht in Moskau, auch nicht in Petrograd, sondern nur an der Kreuzung
Weitere Kostenlose Bücher