Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
gegen das Zarenpalais, wo die letzte Regierung der Besitzenden ihren Geist aushauchte?
Die Garnison des Palais schrumpfte an Zahl stark zusammen. Hatte sie im Augenblick des Eintreffens der Uraler, Invaliden und Stoßbrigadlerinnen anderthalb, vielleicht auch zweitausend erreicht, fiel sie jetzt auf tausend, vielleicht noch bedeutend niedriger. Nur ein Wunder könnte noch retten. Da dringt plötzlich in die hoffnungslose Atmosphäre des Winterpalais zwar kein Wunder, doch die Kunde von seinem Nahen. Paltschinski meldet: Soeben habe man aus der Stadtduma telephoniert, die Bürger brechen auf um die Regierung zu befreien. "Sagen Sie es allen", befiehlt er Sinegub, "das Volk ist hierher unterwegs." Der Offizier eilt über Treppen und Korridore mit der freudigen Kunde. Er stößt auf betrunkene Offiziere, die mit ihren Säbeln fechten, übrigens ohne Blutvergießen. Die Junker erheben das Haupt. Von Mund zu Mund getragen, gewinnt die Nachricht an Farbe und Bedeutung. Politiker, Kaufmannschaft, das Volk mit der Geistlichkeit an der Spitze sind unterwegs, um das Palais von der Belagerung zu befreien. Das Volk mit der Geistlichkeit an der Spitze: "Das wird erhaben schön sein!" Reste von Energie flackern zum letzten Male auf "Hurra, es lebe Rußland!" Die Oranienbaumer Junker, die schon daran gewesen waren, abzuziehen, änderten ihren Beschluß und blieben.
Aber das Volk mit der Geistlichkeit kommt langsam. Die Zahl der Agitatoren im Palais wächst. Gleich wird die Aurora zu feuern beginnen, flüstert man in den Korridoren, und dies Geflüster geht von Mund zu Mund. Plötzlich - zwei Explosionen. Ins Palais schlichen Matrosen ein und warfen, oder verloren vielleicht, von der Galerie zwei Handgranaten, durch die zwei Junker leicht verletzt wurden. Die Matrosen wurden verhaftet, den Verwundeten legte Kischkin, von Beruf Arzt, Verbände an.
Die innere Entschlossenheit der Arbeiter und Matrosen ist groß, doch noch hat sie sich nicht in Erbitterung verwandelt. Um dies nicht auf ihre Köpfe heraufzubeschwören, hüten sich die Belagerten, die weitaus schwächere Seite, mit den in das Palais eindringenden Agenten des Feindes streng zu verfahren. Erschießungen erfolgen nicht. Die ungebetenen Gäste tauchen nun nicht mehr vereinzelt, sondern gruppenweise auf. Das Palais ähnelt immer mehr einem Sieb. Wenn die Junker sich auf die Eindringlinge stürzen, lassen sich diese entwaffnen. "Welch feiges Pack!" sagt verächtlich Paltschinski. Nein, diese Menschen sind nicht feige. Zu dem Entschluß, ins Palais voller Offiziere und Junker einzudringen, gehört hoher Mut. Im Labyrinth des unbekannten Gebäudes, in den dunklen Korridoren, zwischen unzähligen Türen von denen man nicht weiß, wohin sie führen und womit sie drohen, bleibt den Verwegenen nichts anderes übrig, als sieh zu ergeben. Die Zahl der Gefangenen wächst. Neue Gruppen brechen durch. Bald ist nicht immer klar, wer wem sich ergibt und wer wen entwaffnet. Es hämmert die Artillerie.
Mit Ausnahme des unmittelbar an das Winterpalais angrenzenden Bezirkes hörte das Straßenleben bis in die späte Nacht hinein nicht auf. Theater und Kinos spielten. Die soliden und gebildeten Schichten der Hauptstadt schien es gar nicht anzugehen, daß ihre Regierung beschossen wird. Redemeister beobachtete an der Troizki-Brücke ruhig herankommende Passanten, die von den Matrosen aufgehalten wurden. "Nichts Außerordentliches ließ sich wahrnehmen." Von Bekannten, die aus der Richtung des Volkshauses kamen, erfuhr Redemeister unter dem Getöse der Kanonade, daß Schaljapin im Don Carlos unvergleichlich gewesen sei. Die Minister fuhren fort, in der Mausefalle herumzuirren.
"Es ist festgestellt worden, daß die Angreifer schwach sind." Vielleicht kommen rechtzeitig Verstärkungen, hält man noch eine Stunde stand? Kischkin rief in tiefster Nacht den Gehilfen des Finanzministers, Chruschtschew, ebenfalls einen Kadetten, ans Telephon und ersuchte ihn, den Parteiführern mitzuteilen, daß die Regierung wenigstens einer kleinen Unterstützung bedürfe, um bis zu den Morgenstunden durchhalten zu können, wo doch Kerenski mit Truppen endlich ankommen müsse. "Was ist das für eine Partei", entrüstete sich Kischkin, "die nicht imstande ist, auch nur dreihundert bewaffnete Männer zu schicken?" In der Tat: was ist das für eine Partei? Die Kadetten, die in Petrograd bei den Wahlen Zehntausende Stimmen auf sich versammelten, konnten im Augenblick der Todesgefahr für das bürgerliche Regime nicht
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