Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
glauben selbstverständlich nicht, die imperialistischen Regierungen mit unseren Aufrufen beeinflussen zu können; aber solange sie existieren, können wir sie nicht ignorieren. Unsere ganze Hoffnung jedoch setzen wir darauf, daß unsere Revolution die europäische Revolution entfesseln wird. Werden die aufständischen Völker Europas den Imperialismus nicht erwürgen, dann werden wir erwürgt werden - das ist unbestreitbar. Entweder wird die russische Revolution einen Kampfwirbel im Westen hervorrufen, oder die Kapitalisten aller Länder werden unsere Revolution erdrosseln."
"Es gibt einen dritten Weg", schallt es von einem Platze.
"Der dritte Weg", antwortet Trotzki, "ist der Weg des Zentral-Exekutivkomitees, das einerseits Delegationen zu den westeuropäischen Arbeitern schickt und andererseits ein Bündnis schließt mit den Kischkin und Konowalow. Das ist der Weg der Lüge und Heuchelei, den wir niemals beschreiten werden!
Selbstverständlich wollen wir nicht sagen, daß nur der Tag des Aufstandes der europäischen Arbeiter der Tag der Friedensunterzeichnung sein wird. Es ist auch möglich, daß die Bourgeoisie, eingeschüchtert durch den herannahenden Aufstand der Unterdrückten, sich beeilen wird, Frieden zu schließen. Termine sind hier nicht gegeben. Konkrete Formen vorauszusehen, ist nicht möglich. Aber es ist wichtig und notwendig, eine Kampfmethode zu bestimmen, die im Prinzip sich gleich bleibt in der Außen- wie Innenpolitik. Ein Bündnis der Unterdrückten überall und aller Orts - das ist unser Weg."
"Die Kongreßdelegierten", schreibt Reed, "feierten ihn mit einem grenzenlosen Beifallssturm, entzündet vom kühnen Gedanken, Vorkämpfer der Menschheit zu sein." Jedenfalls konnte es damals keinem der Bolschewiki in den Sinn kommen, dagegen zu protestieren, daß das Schicksal der Sowjetrepublik in einer offiziellen Rede namens der bolschewistischen Partei in direkte Abhängigkeit gestellt wurde von der Entwicklung der Weltrevolution.
Das dramatische Gesetz dieses Kongresses bestand darin, daß jeder bedeutsame Akt schloß oder sogar unterbrochen wurde durch ein kurzes Intermedium, in dem plötzlich auf der Bühne eine Gestalt aus dem anderen Lager erschien, Protest einzulegen, mit einem Ultimatum zu drohen oder ein solches zu stellen. Der Vertreter des Wikschel, des Exekutivkomitees des Allrussischen Eisenbahnerverbandes, will sofort und unverzüglich das Wort haben; er muß in die Versammlung eine Bombe werfen noch vor der Abstimmung über die Regierungsfrage. Der Redner, von dessen Gesicht Reed unversöhnliche Feindschaft ablas, beginnt mit der Anklage: seine Organisation, "die stärkste in Rußland", sei zum Kongreß nicht eingeladen worden. "Dann hat Sie das Zentral-Exekutivkomitee nicht eingeladen!" ruft man ihm von allen Seiten zu. Man möge zur Kenntnis nehmen: der ursprüngliche Beschluß des Wikschel betreffs Unterstützung des Sowjetkongresses ist widerrufen! Der Redner beeilt sich, das bereits telegraphisch im ganzen Lande verbreitete Ultimatum zu verlesen:
Der Wikschel verurteile die Machtergreifung durch eine Partei; die Regierung müsse verantwortlich sein der "gesamten revolutionären Demokratie"; bis zur Schaffung einer demokratischen Regierung verfüge über das Eisenbahnnetz ausschließlich der Wikschel. Der Redner setzt hinzu, konterrevolutionäre Truppen würden nach Petrograd nicht durchgelassen werden; überhaupt würden Truppenbewegungen von nun an nur auf Befehl des alten Zentral-Exekutivkomitees erfolgen. Im Falle von Repressivmaßnahmen gegen die Eisenbahner werde der Wikschel Petrograd ohne Lebensmittel lassen.
Der Kongreß zuckte auf wie unter einem Hieb. Die Gewaltigen des Eisenbahnerverbandes versuchten mit der Volksvertretung wie von Macht zu Macht zu verhandeln. Wenn Arbeiter, Soldaten und Bauern die Leitung des Staates in ihre Hände nehmen, will der Wikschel über Arbeiter, Soldaten und Bauern kommandieren. Das gestürzte System der Doppelherrschaft versucht er in kleine Münze umzusetzen. Bemüht, sich nicht auf ihre zahlenmäßige Stärke, sondern auf die außerordentliche Bedeutung der Eisenbahn für Wirtschaft und Kultur des Landes zu stützen, entlarven die Demokraten des Wikschel die ganze Wackligkeit der Kriterien der formalen Demokratie in den Grundfragen des sozialen Kampfes. Wahrlich, die Revolution geizt nicht mit genialen Belehrungen!
Den Moment für den Hieb haben die Versöhnler jedenfalls nicht übel gewählt. Die Gesichter des Präsidiums sind
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