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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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Armeeangehörigen zu ernähren. Die riesige, aber mit ebenso vielen Vollmachten (Deklarierung bzw. Beschlagnahmung von größeren Getreidevorräten) wie organisatorischen Schwächen behaftete Organisation galt auf dem Dorf als unmittelbarer Arm des Staates. Das Haupthindernis für die Durchsetzung der 25-Prozent-Abgabe bzw. der TMV waren unzureichende Lager- und Transportkapazitäten. So mussten die Bauern ohnmächtig zusehen, wie das behelfsweise in Moscheen und Schulen aufgehäufte Getreide verrottete, wenn es nicht schon auf dem freien Feld zertreten wurde.
    Die massive Geldentwertung dieser Jahre war für die neue Türkei ein unbekanntes Phänomen. Selbst während des Unabhängigkeitskriegs hatte es keine vergleichbare Inflation gegeben. 1944 war die Kaufkraft der Beamten nur noch halb so hoch wie 1939. Korruption und Unfähigkeit lokaler Amtsträger verschlimmerten die Situation. Die Zahl der Hungertoten, namentlich im Winter 1942/43, war hoch, ist aber nicht genau bekannt. Zahlreich waren auch die Opfer von Tuberkulose und Lungenentzündung. Anfang 1945 hielt eine Tageszeitung fest, dass nur 1749 Ärzte im Staatsdienst standen und nach wie vor 43.000 Siedlungen vollständig auf Gesundheitspersonal, Sanitätsstationen oder Apotheken verzichten mussten. Die durchschnittliche Lebenserwartung war in den Jahren von 1940 bis 1945 von 34,5 auf 31,4 Jahre gesunken.
    In den Weltkriegsjahren kam es zu keiner Wiederholung der «Thrakischen Vorgänge» von 1934 (siehe S. 55), jedoch beschränkte sich der Antisemitismus nicht auf wirtschaftliche Repression und hässliche Karikaturen. Die Zeitungen stellten schon bei kleinen Delikten Juden als Wucherer und Missetäter dar. Tragisch endete die Abweisung des Schiffes
Struma
mit 778 rumänischen und russischen Juden an Bord, die über Istanbul Palästina erreichen wollten. Nachdem der britische High Commissioner die Einreise trotz Vorstößen der Jewish Agency verweigert hatte, untersagten die türkischen Behörden ihre Ausreiseauf dem Landweg. Auf Anweisung Ankaras wurde das aus eigener Kraft bewegungsunfähige und überfüllte Schiff von einem türkischen Boot ins Schwarze Meer geschleppt und seinem Schicksal überlassen. Es versank am 24. Februar 1942 nach einem gezielten Torpedoangriff eines sowjetischen U-Boots. Nur eine Person überlebte. Ministerpräsident Refik Saydam hatte zuvor verkündet, dass die Türkei kein Asyl für Menschen bereitstelle, die anderswo unerwünscht seien. Im April 1942 entließ die amtliche Nachrichtenagentur, wie man in Deutschland mit Genugtuung registrierte, alle jüdischen Angestellten.
    Ein am 11. November 1942 beschlossenes «Gesetz über Vermögensabgabe» (
Varlık Vergisi
) war unter den geschilderten Umständen eine in Zeiten staatlicher Finanznot sinnvolle Maßnahme, um auch reiche Bürger an den Lasten der Mobilmachung zu beteiligen. Tatsächlich traf die
Varlık Vergisi
jedoch fast nur nichtmuslimische Gruppen (Armenier, Griechen, Juden) bzw. die zum Islam konvertierten
Dönme
in Istanbul. Wer nicht in der Lage war, innerhalb von zwei Wochen seine «Steuerschuld» zu bezahlen, büßte zunächst mit Haftstrafen und Zinszuschlägen. Ab dem 20. Januar 1943 wurden große Vermögen beschlagnahmt, ihre bisherigen Eigentümer zu Zwangsarbeit im fernen Aşkale verurteilt. Die Ausführungsbestimmungen des Gesetzes sahen ihre Verwendung in Steinbrüchen, im Brücken- und im Straßenbau vor. Nach Zeitungsberichten waren Anfang 1943 bereits Arbeitslager für 10.000 Personen bereitgestellt worden. Tatsächlich wurden 1229 Menschen in den äußersten Südosten des Landes deportiert, unter ihnen kein einziger Muslim. Ministerpräsident Şükrü Saraçoğlu hatte öffentlich erklärt, dass die Steuer «mit aller angemessenen Härte» diejenigen treffe, «die von der Gastfreundschaft der Nation profitierten und reich geworden seien». İnönü rechtfertigte die Verordnung in einer geschlossenen CHP-Sitzung als Revolutionsgesetz: «Indem man die auf unserem Markt dominanten Ausländer beseitigt, geben wir den türkischen Markt in die Hände von Türken.» Allerdings bildete sich erst in den 1970er Jahren ein türkischmuslimisches Unternehmertum heraus, das sich deutlich von den Neureichen der frühen Republik unterschied.
    Der Staat lenkte auch während der Kriegsjahre Ressourcen in die neue Hauptstadt, wo wichtige Hochschul- und Regierungsbauten entstanden bzw. in Angriff genommen wurden (Gebäude der Nationalversammlung durch Clemens

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