Geschichte des Kapitalismus
vormals rein landwirtschaftlich genutzten Gebieten des Nordens und Westens. In den südlichen Niederlanden, dem späteren Belgien machte sich im 17. Jahrhundert ein Verfall des Gewerbes in den Städten bemerkbar, in den Dörfern dagegen breitete sich die Erzeugung von Tuchen, Spitzen und Waffen aus, und zwar auf Bestellung von Verlegern, die häufig sowohl Rohstoffe als auch Muster für die Produktion der bestellten Waren lieferten. Die industrielle Produktion Frankreichs wuchs im 18. Jahrhundert erheblich, durchschnittlich ein bis zwei Prozent im Jahr, hauptsächlich aufgrund ländlicher Protoindustrie. Davon gab es auch viel in Ostmitteleuropa, aber auffallend wenig südlich der Alpen und Pyrenäen.
Die
Formen
der Verbindung von lokaler Produktion und überlokalem Kapitalismus variierten. Sie reichten vom Kaufsystem (Kaufleute beschränkten sich auf die Abnahme und den Vertrieb von Produkten der ländlichen Handwerker, so z.B. im Leinengewerbe um Bielefeld) über den einfachen Verlag, in dem Verleger Rohstoffe lieferten und den Fernabsatz regelten (so über die Jahrhunderte in den Seidenindustrien Norditaliens, Basels, Antwerpens, Lyons, Krefelds und Berlins) bis zum Verlag mit zentralisiertem Manufakturbetrieb, so wenn die «Calver Zeughandlungscompanie» mit dem Hauptsitz in Augsburg ca. 5000 Spinner, Weber und andere Textilhandwerker zur Bearbeitung aller Stadien der Woll- und Wolltücherproduktion dezentralisiert beschäftigte, aber 168 von ihnen zum Färben, Bleichen und Drucken in zentralisierten Werkstätten (Manufakturen) direkt beaufsichtigte.
Das protoindustrielle System verkörperte ein Stück Kapitalismus in einer insgesamt noch vorkapitalistischen Welt. Es blieb in vielem noch sehr traditionell: Nennenswerter technologischer Fortschritt blieb aus, die Arbeit geschah mit herkömmlichen Techniken vor allem im heimischen Kontext, sehr häufig unter Teilnahme aller Familienmitglieder, oft auch als Nebenbeschäftigung im saisonalen Rhythmus und nach vorkapitalistischer Logik. Diese zeigte sich etwa daran, dass Heimarbeiter in Zeiten schlechter Konjunktur und niedriger Preise sehr viel arbeiteten, um sich über Wasser zu halten, während sie in Zeiten guter Konjunktur, wenn sie hohe Preise für ihre Produkte erzielen konnten, ihre Arbeitsleistung drosselten, denn nun konnte ja die familiale Subsistenz mit geringerem Aufwand gesichert werden. Mit der Ausdehnung des Systems wurden die Beaufsichtigung der Produzenten und die Koordination der Verläufe schwieriger, die systembedingten Grenzen von Innovation und Wachstum traten deutlich hervor. Der Ãbergang in eine neue Qualität der Produktion mit sich selbst weiter treibendem Wachstum war nicht angelegt; der bruchlose Ãbergang von der Protoindustrie zur eigentlichen Industrialisierung blieb die Ausnahme.
Auf der anderen Seite stülpte das protoindustrielle System dieProduktionsverhältnisse um und wies in die Zukunft. Es schaffte Ãberlebensmöglichkeiten für Millionen und trug zur Beschleunigung des demographischen Wachstums bei. Die Lebensschicksale der Heimarbeiter gerieten erfahrbar in die Abhängigkeit der Märkte und ihrer Schwankungen. Die Lebensweise veränderte sich und wurde moderner: mit mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und mit Teilhabe an neuen Konsumchancen, an Kolonialwaren wie Zucker, Tee und Tabak wie an modischen Neuerungen (WeiÃ- statt Graubrot, Wegwerfpfeifen, Taschenuhren, Vorhänge). Es war in dieser Welt des markt- und konsumbezogenen, aber dezentralisierten und haushaltsnahen Gewerbes, dass jene Erziehung zur disziplinierenden, zielgerichteten, in gewisser Hinsicht rationellen Arbeit stattfand, die der Wirtschaftshistoriker Jan de Vries als «industrious revolution» analysiert hat, und die man als frühneuzeitlichen Vorlauf zur Industrialisierung seit dem späten 18. Jahrhundert verstehen kann. SchlieÃlich waren es auch die Ergebnisse und die Engpässe des protoindustriellen Textilgewerbes, auf die die groÃen Erfindungen der Industriellen Revolution â Hargreavesâ Spinning Jenny (1764), Arkwrights Water Frame (1769) und Cromptons Mule (1779) â reagierten, welche dem Aufstieg der Fabrikindustrie und damit der eigentlichen Industrialisierung die Bahn brachen. Die Protoindustrialisierung hat zwar als solche nicht zum Industriekapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts geführt. Aber ihre
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