Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Amt blieb und an der Wahlrechtsreform festhielt.
Als das House of Lords am 8. Mai 1832 die Vertagung seiner Beratungen über eine neue, leicht abgemilderte Vorlage der Regierung beschloß, wäre das Kabinett nur noch durch einen Pairschub, die Ernennung neuer, gouvernemental gesinnter Lords, zu retten gewesen. Da König Wilhelm IV., der seit 1830 auf seinem Thron saß, diesen Schritt ablehnte, trat Grey zurück. Der Monarch beauftragte daraufhin den erzkonservativen Amtsvorgänger des Premiers, den Herzog von Wellington, mit der Regierungsbildung. Wilhelm spitzte damit die Krise so zu, daß in zahlreichen Volksversammlungen sofort der Ruf nach Steuerverweigerung laut wurde und Parolen von Barrikadenbau und Volksaufstand die Runde machten. Auch wenn die Radikalen um Attwood und seinen Verbündeten Francis Place mit der Entfesselung der Revolution nur drohten, um die Wahlreform endlich durchzusetzen: Einem gewaltsamen Umsturz war England seit 1688 nie so nahe wie im Mai 1832.
Daß die Revolution nicht stattfand, lag zum einen an der Weigerung einflußreicher Tories wie Robert Peel, sich in den Dienst einer Politik gegen die öffentliche Meinung zu stellen, zum anderen an dem höchst wirkungsvollen Aufruf von Place, massenhaft Bankguthaben zu kündigen. Die dadurch hervorgerufene Finanzkrise veranlaßte Wellington, den Auftrag zur Regierungsbildung zurückzugeben. Am 18. Mai fügte sich Wilhelm IV. in das Unvermeidbare: Er erklärte seine Bereitschaft, durch die Ernennung neuer Lords der Reformbill zur Annahme zu verhelfen. Die Ankündigung genügte, um den Widerstand des Oberhauses zu brechen: Am 4. Juni 1832 wurde die Vorlage in dritter Lesung mit 106 gegen 22 Stimmen gebilligt. Drei Tage später erlangte sie mit der Zustimmung des Königs Gesetzeskraft.
Die Reform war weit davon entfernt, dem Land das allgemeine gleiche Wahlrecht zu bringen. Sie erhöhte die Zahl der Wahlberechtigten von rund 500.000 auf über 800.000, so daß nach wie vor nur eine kleine Minderheit der erwachsenen männlichen Bevölkerung Einfluß auf die Wahl des Unterhauses nehmen konnte. (Um 1830 lebten in England, Wales und Schottland etwa 16,5 Millionen Menschen.) Es waren die Mittelschichten, die von der Reform profitierten, nicht die Arbeiterklasse. In der Zusammensetzung der Commons spiegelte sich die Erweiterung des Wahlrechts allerdings kaum wider: Hier gab nach wie vor der niedere Adel den Ton an. Dennoch bildete die Reformbill eine tiefe Zäsur. Sie bewies die Fähigkeit der politischen Elite, das überkommene System schrittweise den Herausforderungen der Gegenwart anzupassen und so einem gewaltsamen Umsturz von unten den Boden zu entziehen. Die Reform verhinderte die Revolution: Im Hinblick auf das Wahlgesetz von 1832 gibt es an diesem Sachverhalt nichts zu deuteln.
Gebannt war die Gefahr einer revolutionären Umwälzung mit dem Erfolg der Wahlrechtsreformer aber noch längst nicht. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verlangsamte sich vorübergehend das Wachstum der britischen Wirtschaft; der Bau von Eisenbahnen hatte zwar schon um 1825 begonnen, doch es sollte mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis das neue Verkehrsmittel zum Schlüsselsektor einer neuen Phase der Industriellen Revolution aufsteigen konnte. Das soziale Hauptmerkmal der dreißiger wie der vierziger Jahre war die Massenarmut – nicht hervorgerufen, wohl aber verschärft durch die wachsende Zahl von Einwanderern aus dem ungleich ärmeren Irland, die für noch geringere Löhne als die englischen Proletarier zu arbeiten bereit waren und darum von diesen als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt gefürchtet und vielfach gehaßt wurden. Die ohnehin schon miserablen Lohn- und Lebensverhältnisse in den großen Industriestädten Englands verschlechterten sich durch die irische Immigration noch beträchtlich.
Das wachsende soziale Elend überforderte die Gemeinden, denen bislang die Armenfürsorge oblag. Eine Königliche Kommission, die kurz nach der Wahlrechtsreform von 1832 eingesetzt worden war, um die Ursachen der verbreiteten Armut zu untersuchen, kam zu dem Ergebnis, daß die Unterstützung gesunder Arbeiter mit öffentlichen Geldern die Wurzel allen übels war. Infolgedessen empfahlen die Sachverständigen, arbeitsfähigen Armen nur noch durch Aufnahme ins öffentliche Arbeitshaus zu helfen, wo harte Arbeit mit einfachster Nahrung vergütet wurde. Die Vorschläge der Kommission wurden in Gesetzesform gegossen und 1834 in Kraft gesetzt. Das Prinzip, das dem
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