Geschichte des Westens
beziehungsweise 4. September drei konservative «anti-appeasers» in das Kabinett aufnahm: Winston Churchill als Ersten Lord der Admiralität, Anthony Eden als Minister für die Dominions und Harold Macmillan als Chef des neu geschaffenen Informationsministeriums.
Die französische Regierung konnte sich bei ihrer Kriegserklärung ebenfalls auf die volle Rückendeckung des Parlaments stützen: Am 2. September hatten Deputiertenkammer und Senat einstimmig, durch Handaufheben, die Regierung Daladier ermächtigt, neue Kredite aufzunehmen, von denen alle wußten, daß es, auch wenn der Ministerpräsident das Wort «Krieg» vermied, Kriegskredite waren. In beiden Kammern des Parlaments stimmten auch die Kommunisten für die Vorlage der Regierung. Dreieinhalb Wochen später, am 26. September, wurde die Kommunistische Partei für illegal erklärt, nachdem diese auf Weisung der Komintern begonnen hatte, auch unter Soldaten gegen den «imperialistischen Krieg» zu agitieren und den inzwischen erfolgten Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen als Befreiungsaktion zu verteidigen.
Hitler, der von den prompten Reaktionen der westlichen Demokratien überrascht wurde, trat die Flucht nach vorn an. Seit dem 3. September hatte er wieder ein klares Feindbild: das Judentum. Doch es war nun nicht mehr das Judentum in seiner «bolschewistischen»,sondern in seiner «demokratischen», «plutokratischen», «kapitalistischen» Erscheinungsform. Ihm gab Hitler, als Dialektiker nunmehr Stalin fast ebenbürtig, die Schuld an dem von ihm entfesselten Krieg. Nicht das britische Volk könne für den Krieg verantwortlich gemacht werden, hieß es im Aufruf an das deutsche Volk vom 3. September, den er noch vor dem Kriegseintritt Frankreichs verfaßt hatte. «Es ist jene jüdisch-plutokratische und demokratische Herrenschicht, die in allen Völkern der Welt nur gehorsame Sklaven sehen will, die unser neues Reich haßt, weil sie in ihm Vorbilder einer sozialen Arbeit erblickt, von der sie fürchtet, daß sie ansteckend auch in ihrem eigenen Lande wirken könne.»
Den «Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen» gegenüber behauptete Hitler am 3. September: «Unser jüdisch-demokratischer Weltfeind hat es fertiggebracht, das englische Volk in den Kriegszustand gegen Deutschland zu hetzen. Die Gründe dafür sind genau so verlogen und fadenscheinig, als (sic!) es die Gründe 1914 waren.» An die Parteigenossen erging der Aufruf: «In wenigen Wochen muß die nationalsozialistische Kampfbereitschaft sich in eine auf Leben und Tod verschworene Einheit verwandelt haben. Dann werden die kapitalistischen Kriegshetzer Englands und seiner Trabanten in kurzer Zeit erkennen, was es heißt, den größten Volksstaat Europas ohne jede Veranlassung angegriffen haben.»
Die Sprache Hitlers erinnerte am 3. September 1939 stark an eine besondere Spielart der «Ideen von 1914»: die Gegenüberstellung des sozialen, ja sozialistischen Deutschland und des kapitalistischen, ja plutokratischen England. Die «jüdische Weltverschwörung» schien fast über Nacht ihr Hauptquartier vom Moskauer Kreml in die Londoner City verlegt zu haben. Vermutlich fand Hitlers antikapitalistische Rhetorik in der Arbeiterschaft dank der inzwischen erreichten Vollbeschäftigung, des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates und mancher populärer Freizeitangebote der Deutschen Arbeitsfront sogar einen gewissen Anklang, und um die Unterstützung durch die Arbeiter mußte es Hitler besonders gehen, wenn er einen neuen «November 1918» ausschließen wollte. Neu war gegenüber dem wilhelminischen Deutschland, daß der Appell an das antijüdische Ressentiment nicht von irgendwelchen gesellschaftlichen oder politische Gruppen, sondern von «oben» kam, also offiziellen Charakter trug. Wie immer es um den Widerhall dieser Parolen stand: In Deutschland befand sich seit 1933 der Antisemitismusan der Macht. Darin lag
ein
grundlegender Unterschied zwischen den Kriegsausbrüchen von 1914 und 1939 – und zwischen den Kriegen, die damals begannen.
Einen anderen Unterschied markierte Hitler durch einen Erlaß, den er im Oktober 1939 unterzeichnete und auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierte. Er lautete: «Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt
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