Geschichte des Westens
besonderer Berücksichtigung Österreichs, der Tschechoslowakei und des Balkans. Zweitens könnten wir uns im Rahmen einer Generalbereinigung in bezug auf die Ausgänge aus dem Schwarzen Meer und der Ostsee entgegenkommend zeigen. Eine Lösung für alle diese Dinge ist aber nur zu finden, bevor die amerikanischen Armeen in Europa geschwächt werden. Sollten sie nach dem Abzug der amerikanischen Armee aus Europa und dem Abbau des Kriegsapparats der westlichen Welt noch ungelöst sein, dann sind die Aussichten für eine befriedigende Lösung und die Vermeidung eines dritten Weltkriegs nur sehr gering. Auf eine solche frühzeitige Kraftprobe und Generalbereinigung mit Rußland müssen wir jetzt unsere Hoffnungen setzen. Bis dahin bin ich dagegen, unsere Forderungen an Rußland betreffs Polen irgendwie abzuschwächen.»
Churchill brachte seine Sorgen und Forderungen in einem Augenblick zu Papier, in dem der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, der Politik seines Landes noch nicht verbindlich die Richtung vorgab. Die tatsächliche Führung der USA schien, was die Beendigung des Krieges in Europa anging, eine Zeitlang beim Oberkommandierenden der amerikanischen und der westalliierten Truppen auf dem europäischen Kriegsschauplatz, General Dwight D. Eisenhower, zu liegen. Dieser zeigte, im Gegensatz zu Churchill, kein Interesse daran, die Truppen der Westalliierten so rasch wie möglich nach Berlin zu führen, um die Eroberung der Reichshauptstadt nicht oderjedenfalls nicht ganz der Roten Armee zu überlassen. Auch einen Vorstoß nach Prag hielt Eisenhower für weniger dringlich als der britische Premierminister. Vorrang hatte für den General die Besetzung Süddeutschlands bis hin zur tschechoslowakischen Grenze von 1937, wobei ihn die Befürchtung leitete, daß den Amerikanern noch massiver deutscher Widerstand in der angeblichen «Alpenfestung» drohte. Churchill versuchte zwar, Eisenhower zu einer Korrektur seiner Prioritäten zu bewegen, hatte damit aber, da Truman sich hinter den Oberkommandierenden stellte, keinen Erfolg. Das Gesamtinteresse der «westlichen Welt», von der Churchill in seiner Aufzeichnung vom 4. Mai sprach, hatte in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs nur einen klarsichtigen und beredten Fürsprecher: Winston Churchill.
Auch er trug freilich, obgleich er Stalin gegenüber nicht so gutgläubig gewesen war wie Roosevelt, eine Mitverantwortung für die Situation, die nun eingetreten war. Großbritannien und die USA hatten die Hauptlast der militärischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland der Sowjetunion überlassen und die von Stalin geforderte Eröffnung einer «Zweiten Front» in Frankreich immer wieder hinausgeschoben. Dafür gab es jeweils einleuchtende militärische Gründe. Auf diese Weise hielten die beiden großen westlichen Demokratien aber auch die Verluste ihrer Armeen in Grenzen, und sie durften darauf hoffen, daß diese Haltung auch von den Wählerinnen und Wählern honoriert werden würde. Dazu kam das imperiale Interesse Großbritanniens am Mittelmeerraum und dem Erhalt des Commonwealth. Es hatte einen erheblichen Anteil daran, daß die Westmächte der Invasion in Nordafrika einen zeitlichen Vorrang vor einer Invasion auf dem europäischen Kontinent einräumten.
Der Preis dieser Politik bestand darin, daß die westlichen Demokratien der Sowjetunion einen großen Teil Deutschlands überlassen und faktisch ganz Ostmittel- und Südosteuropa ausliefern mußten. Was Roosevelt und Churchill Stalin in Teheran und Jalta zugestanden hatten, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Im übrigen bedeutete das Ende des Krieges in Europa noch nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges. Für die Niederzwingung Japans vermeinte man in Washington wie in London noch der sowjetischen Hilfe zu bedürfen. An eine große Konfrontation mit Stalin war unter solchen Umständen im Frühjahr 1945 nicht zu denken.
Während der Ton von Churchills Warnungen vor der Gefahr aus dem Osten immer dringlicher wurde, ging der Vormarsch der Roten Armee, begleitet von Hunderttausenden von Vergewaltigungen und Plünderungen und zahllosen Morden an Zivilisten, weiter. Am 30. März wurde Danzig erobert, am 9. April Königsberg. Seit dem gleichen Tag war auch ganz Ungarn in sowjetischer Hand. Am 13. April zog die Rote Armee in Wien ein. Drei Tage später begann an der mittleren Oder und der Lausitzer Neiße der sowjetische Großangriff auf Berlin.
Vom Westen her
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